Ignaz Briess — Ghettoleben


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6. Kapitel

„Eine Beleidigung stößt man so leicht heraus
und ein Reuebekenntnis wird so schwer.“
(B.Auerbach)

Der gottselige Vater war trotz seiner Willensstärke doch sehr friedliebend.

Ich entsinne mich, daß er sich einmal mit dem Inhaber des benachbarten Synagogensitzes verfeindete — weshalb, weiß ich nicht mehr — und daß er ihn im Gegensatze zu vorstehendem Motto bereits am nächsten Sabbat nach dem Gottesdienste um Verzeihung bat, da es seinem religiösen Empfinden widerstrebte, neben einem grollenden Nachbarn im Gotteshause zu sitzen.

In der Regel wurden ernste Feindschaften erst am Erew Jaumkipur nach dem Minchagebete durch das Malkus Arboimschlagen ausgetragen; dieses geschah in der Weise, daß der Beleidiger den Beleidigten bat, ihm mit einem in der Vorhalle der Synagoge hängenden breiten Lederriemen vierzig beziehungsweise neununddreißig Geißelhiebe auf den gebeugten Rücken zu applizieren.

Für mutmaßliche, das ist unbewußte Beleidigungen bat man sich gegenseitig vor Beginn des Kolnidre um Mechilo (Verzeihung), da man sich um diese Stunde allgemein in einer weihevollen Stimmung befand.

Bevor man zum vorstehend erwähnten Mincha-Gottesdienste (Vesper) ging, welcher in der Regel um 1 Uhr nachmittags begann, nahm man in der Mikwoh (das ist das rituelle Tauch- oder Gemeindebad) ein Reinigungsbad, weil es im dritten Buch Moses, K.16, V.30 heißt: „Lifne adonai tithoru“, d.i. vor Gott müsset ihr rein erscheinen.

Die Mikwoh, auch Duck (Tuck) genannt, weil das Gesetz ein dreimaliges Untertauchen (Ducken) vorschreibt, war nach den Vorschriften des Schulchan Aruch eingerichtet. Sie befand sich in der Regel im rückwärtigen Hof der Synagoge und wurde regelmäßig einmal im Monat von den verheirateten Frauen benützt, meistens in den Abendstunden, während man beim Maariv-Gebete war. Wie gewöhnlich lungerten einige Knaben im Vorhofe der Synagoge herum anstatt hineinzugehen, weil meistens der eine oder andere hübsche Junge von den aus dem Bade heimkehrenden Frauen im Gesichte getätschelt und mit Zuckerwerk beschenkt wurde.

Eine Sage erzählt von Rabbi Jochanan ben Nascha, der wegen seiner Schönheit berühmt war, daß er beim Ausgang der Mikwa oft stundenlang weilte, damit die aus dem Bade heimkehrenden Frauen ihn sehen sollten (s. Dr.Hamburger: Real-Encyklopädie II).

* * *

„Wohltun und nicht freundlich sein,
reicht ein Brot und macht’s zum Stein.“

Im Stillen war der gottselige Vater sehr wohltätig; für sein Zartgefühl spricht es, daß er außer den üblichen Spenden am Erew Jaumkipur und Purim, zu jedem Feiertage und nach jeder Bilanz mehreren ehemals wohlhabenden und dann verarmten Familienvätern durch mich Geldbeträge in verschlossenen Briefumschlägen schickte.

Einer von diesen, ein Herr N., zählte zu den hartnäckigsten Orthodoxen. Wenn der Vorbeter an den Jonim nauroim ein Wort unrichtig aussprach oder gar einen Pijut (religiöse Dichtung) oder einen Pismon (Rezitation) ausfallen ließ, geriet er in große Aufregung und unterbrach den Gottesdienst oft in solch’ lärmender Weise, daß man ihn schließlich nur durch Androhung einer Klage wegen Religionsstörung beruhigen konnte, obgleich gerade er als frommer und hervorragender Talmudist wissen mußte, daß er dem Rabbiner, welcher in erster Linie zur Abhilfe berufen und berechtigt gewesen wäre, nicht vorgreifen durfte. Es heißt ja in den Sprüchen der Väter, K.4, V.12: „Mauro rabboch k mauro schomajim“, die Ehrfurcht vor dem Lehrer soll so groß sein wie die Ehrfurcht vor Gott.

* * *

In der damaligen alten Prerauer Synagoge gab es mobile Ständer, „Stot“ genannt (verstümmeltes Wort von Stätte). Durch diese kam es nicht selten zu Auseinandersetzungen, weil mancher Inhaber einer „Stot“ zu weit in den ohnehin nicht sehr breiten Gang hinausrückte oder durch Aufschlagen auf sein Betpult oder auf den Fußboden sein Mißfallen 1) z.B. über die Drascha (Vortrag des Rabbiners) oder über den Vorbeter kundgab. Dieser Umstand und weil die im Jahre 1832 abgebrannte und nur notdürftig hergestellte Synagoge ohnehin zu klein war (die polnische „Schul“ war ja nur ein unzureichender Anbau), wurde diese noch unter dem Regime des gottseligen Vaters teilweise erweitert und die innere Einrichtung erneuert.

Der Almemor (Tribüne), welcher früher in der Mitte der Synagoge stand, wurde um ca. 19 Zoll (ca. ein halber Meter) erhöht und gegen die Bundeslade (Tabernakel) vorgeschoben.

Der Rabbiner erhielt seinen Sitz links und der Chasan rechts; beide saßen nun, im Gegensatze zur früheren Gepflogenheit, mit dem Gesichte zum Publikum.

Zum Almemor-Aufgange führten links und rechts je drei Stufen.

Der Fußboden vor der Mitte des Schulchan (d.i.Tisch für die Thora, an welchem nach der Verlesung aus derselben der Vorbeter stand) soll angeblich um circa 1/2 bis 1 Zoll vertieft worden sein, weil es im 130. Psalm, V.1, heißt: „mimaakim korossicho adonai“, d.i. aus der Tiefe rufe ich zu Dir, o Gott!

Die Synagogensitze mit dem Pulte für das Gebetbuch waren nun stabil; es kostete viel Mühe, Kommassierung und Geldopfer, Ordnung in die Reihenfolge zu bringen.

Die Sitze und das zugehörige Betpult blieben jedoch im Eigentum der bisherigen Inhaber und konnten von diesen verkauft oder verpfändet werden (Scari, § 58/59).

Mit Bezug darauf erzählte man sich folgende Episode:

Ein Bauer aus dem Dorfe N. bei U.B. soll von seinem jüdischen Schuldner dessen Synagogensitz im Lizitationswege erstanden haben. Da ihm niemand diesen Synagogensitz abkaufen wollte, so ging er fast jeden Sabbat und Jaumtauw in die Synagoge, woselbst er sich mit unbedecktem Haupte ruhig und anständig benahm.

Einmal erlizitierte er als Meistbieter auch eine Alijah.

Da man ihn aber nicht aufrufen wollte, so beschwerte er sich deshalb bei der Behörde, bezw. dem Oberamtmanne, welcher folgende Entscheidung dem Kultusvorsteher zugehen ließ: Der Bauer N. darf eine Alijah kaufen, man braucht jedoch nicht, ihn aufrufen zu lassen.

* * *

Für das Rechtsgefühl meines Vaters ist folgende Tatsache bezeichnend:

In sein ursprünglich allein betriebenes Getreidegeschäft nahm er später einen Bruder und einen Schwager als Teilhaber auf. Der Schwager war der vorher genannte Lehrer der Trivialschule. Da sein kärglicher Gehalt die Bedürfnisse seiner Familie nicht deckte, so erübrigte dem gottseligen Vater nichts anderes, als ihn zum stillen Teilhaber seines Geschäftes zu machen. Seine Tätigkeit bestand in der Führung der Bücher und in der Auszahlung der Einkaufszettel an den Dienstag- und Freitag-Wochenmärkten1).

Einige Tage nach einem ersten Januar fuhr mein Vater in einem offenen Schlitten zu dem vorher erwähnten gräflichen Großgrundbesitzer, um ihm die Dezember-Rechnung von beiläufig dreitausend Gulden zu begleichen.

Aus besonderer Aufmerksamkeit wollte er diesen Betrag in neugeprägten Dukaten erlegen.

Zu seinem nicht geringen Schrecken befand sich das Leinwandsäckchen, in welchem die Dukaten eingepackt waren, beim Erscheinen in der Gutskanzlei nicht mehr in der Rocktasche.

Wegen der großen Kälte war er während der Fahrt vom Schlitten abgestiegen und ein Stück Weges zu Fuß gegangen und hatte dabei das Päckchen mit den sechshundert Dukaten wahrscheinlich verloren.

Er hat diesen für seine damaligen Verhältnisse sehr empfindlichen Verlust aus Eigenem nach und nach bezahlt und verschwieg ihn lange seiner Frau und seinen Kompagnons.

Die Dukaten waren nicht mehr auffindbar; der „redliche Finder“ behielt sie für sich! Nach vielen Jahren sprach man wohl von einem Bauern im Dorfe Z., unter dessen Nachlaß sich viele Dukaten befunden haben sollen: ein Beweis, daß derselbe s.Zt. der Finder war, konnte nicht mehr erbracht werden. Der mutmaßliche Finder soll Moudry geheißen haben; er dürfte sich im Stillen gesagt haben: Goldstücke kann doch nur ein reicher Mann verloren haben, der den Verlust verschmerzen kann, und wo kein Kläger, ist auch kein Richter.

* * *

Als Anerkennung für die mehr als vierzigjährige geschäftliche Verbindung hinterließ ihm der als Menschenfreund bekannte, edle Gutsherr eine sehr schöne silberne Tabatière, welcher ein Ehrenplatz in unserer Vitrine (damals Glaskasten genannt) eingeräumt wurde.

Es war ja eine schon seit Jahrhunderten bestehende Sitte, daß die hohen und höchsten Herren wirkliche und vermeintliche Verdienste durch Überreichung von „Schnupftabaksdosen“ (Tabatièren) belohnten, und mancher Beschenkte mag durch eine solche Dose sehr „verschnupft“ gewesen sein, weil er sich eine andere Auszeichnung erwartet hatte.

Der gottselige Vater benützte diese Dose nur an den Festtagen. Sie wurde mit feinstem Schnupftabak, welchem eine wohlriechende Tonkabohne (vom Dipterixbaum) beigelegt war, gefüllt und in der Synagoge den Verwandten und Bekannten dargereicht, damit sie sich an dem wohlriechenden Tabak erfrischen; besonders war dies an den Jomim nauroim der Fall.

Als Zeichen kindlicher Liebe pflegten die Kinder am Jaumkipur ihrer Mutter eine mit Gewürznelken (vom Caryophyllusbaum) gespickte Lemone in die Schul zu schicken, damit der Wohlgeruch ihre durch das Fasten und durch das ergreifende „Unneszane taukef“ und durch das wiederholte „Alchet“ (Sündenbekenntnis) ermatteten Lebensgeister ein wenig erfrische.

Eine ähnliche Aufmerksamkeit erwies der Bräutigam seiner Braut oder ein stiller Verehrer seiner Herzensdame. Blumenspenden waren damals nicht üblich; auch wären sie ja bei der tropischen Glut, die meistens am Jaumkipur herrschte, zu rasch verwelkt.

Die jetzige Generation hat keine Ahnung, mit welcher Strenge der Fasttag des Jaumkipur damals gehalten wurde; man durfte sich beim Erwachen weder das Gesicht noch die Hände gänzlich waschen. Das Ausspülen des Mundes war verboten, damit man nicht unwillkürlich Wasser schlucke, ebenso durften die Mädchen ihre langen Haare nicht kämmen, weil sie aus Versehen einzelne Haare hätten herausreißen können, was einer Arbeit gleichgekommen wäre.

Die überfrommen Juden verbrachten volle 24 Stunden ohne Unterbrechung in der Schul im Gebet versunken; die etwas weniger frommen verweilten daselbst von 6 Uhr früh bis nach dem Maariwgebete. Pausen zwischen dem Schachrit und dem folgenden Mussaf, Mincha und Neila (Schlußgebet) gab es nicht; wenn solche eintraten, wurden sie durch Psalmenrezitationen ausgefüllt. Sogar die Lüftung der Synagoge unterblieb.

7. Kapitel

„Eine Mutter spricht zum Herzen,
der Vater zum Verstande!“
(Ompteda)

Die gottselige Mutter zeichnete sich nicht nur durch ihren schlanken Wuchs, ihren schönen Teint, durch ihr lebhaftes, dunkles Auge, ihren graziösen Gang und ihre wohlklingende Stimme, sondern auch durch ihre Bildung aus. Sie kleidete sich stets einfach, aber sehr geschmackvoll. Man sah sie nie, selbst nicht in der Küche, in einem verschlissenen Kleide, und wenn sie am Sabbat oder am Jaumtauw ihre besseren Kleider trug oder im Winter den mit Pelz verbrämten rötlichbraunen Sammtmantel (damals Burnus genannt) umnahm, sagte man allgemein, daß sie eine edle, vornehme Erscheinung sei.

Dabei war sie fromm, sehr bescheiden und voll von Güte gegen Arme.

Sie ließ an den Wochenmarkttagen (Dienstag und Freitag) Geflügel und sonstigen Küchenbedarf nur durch arme Weiber einkaufen, damit diese daran einige Kreuzer verdienten. Dabei war sie eine selten tüchtige Hausfrau; sie besaß die Kunst, ihrem großen Hauswesen mit wenigen Mitteln einen vornehmen Anstrich zu geben.

Vormittags war sie vorwiegend im Haus und in der Küche beschäftigt und nachmittags in dem außerhalb der Judengasse am sogenannten Niederring in dem im Turofsky’schen Hause befindlichen „Gewölbe“ beim Lederausschnitt tätig und durch ihr leutseliges Wesen bei den Kunden sehr beliebt.

Damals sagte man anstatt Niederring: Prerau „unten“ und anstatt Oberring: Prerau „oben“, weil dieser um circa 25 m höher gelegen war. Am Dienstag war der Wochenmarkt oben und am Freitag unten wegen der stärkeren Frequenz. Die Landleute fuhren mit ihren Getreidewagen nicht gerne auf den Oberring wegen der steilen Auffahrt, die namentlich im Winter — bei Glatteis — nicht ungefährlich war.

In freien Stunden war sie eine eifrige Leserin moderner belletristischer Schriften

Fräulein Szorl Grün, die älteste schöngeistige Tochter des Rabbiners, besaß eine gewählte Leihbibliothek, aus welcher sie mir nach absolvierter Volksschule öfters die für mein Alter und meinen Wissensdurst angemessenen Bücher borgte, z.B. Jugendschriften von F. Weisse, Franz Hoffmann, Rückert, Schmied, Nieritz usw.

Wenn in einem dieser Bücher etwas Unwahres und Widersinniges über die Juden vorkam (z.B. in dem Gedichte von Friedr.Rückert: Von dem Bäumlein, welches andere Blätter gewollt, die Strophe: Da kam der Jude mit dem Sack in welchen er die goldenen Blätter einsteckte — als wenn sie ein Nichtjude im Walde liegengelassen hätte) war ich über den Verfasser empört und dachte mir im Stillen, der muß ein unfähiger Skribifax und ein schlechter Mensch sein, der sich auf Kosten der Juden, denen er in seinen Werken die Rolle eines Clowns oder eines Bösewichtes zuteilt, einen Leserkreis verschaffen will (s.Anm.19).

Gegen ihre Kinder war die gottselige Mutter von einer seltenen Güte, jedoch ohne Schwäche; sie strafte nie mit „Schlägen“, sondern erteilte nur durch Worte und durch den „Aufschlag“ ihrer Augen etwaige Zurechtweisungen; sie war mit einem Worte eine echte „Esches chajil“ (eine wackere Frau), wie sie der weise König Salomo, der ein Frauenkenner par excellence war, so treffend im „Mischle“, K.31, V.10, mit den Worten schildert: „Esches chajil mi jimzoh“, d.i.:Wer ein Biederweib errungen, usw.

In ihrem späteren Alter wurde sie zur ersten Vorsteherin des neugegründeten Frauen-Wohltätigkeits-Vereines gewählt.

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Die gottseligen Eltern hatten das Glück, ihr goldenes Ehejubiläum im Jahre 1882 bei ziemlich guter Gesundheit feiern zu können; leider starben sie wenige Jahre nachher.

Die geliebte Mutter verschied Samstag, den 3.Juli 1886 und zwei Jahre später, Montag, den 2.Juli 1888, der teure Vater.

Von seiner Seelenstärke zeigte es, daß er der gottseligen Mutter, bevor man ihre sterbliche Hülle aus dem Hause trug, einen warmen Nachruf hielt, in welchem er ihre Tugenden pries und ohne Murren und Klagen dem allgütigen Schöpfer dankte, daß er ihm so viele Jahre des Glückes an der Seite einer so edlen Gattin beschieden hatte.

Der teure Vater erreichte ein Alter von 81 Jahren und die geliebte Mutter ein solches von 74 Jahren.

Wegen ihrer ersprießlichen Tätigkeit für das jüdische Gemein- und Gemeinde-Wohl wird das Andenken beider unvergeßlich bleiben und stets in Ehren gehalten werden.

„Gute Menschen, die man lieb hat, werden nur begraben, aber sie sterben nie.“ (Ganghofer: „Lebenslauf eines Optimisten“)

8. Kapitel

„Ein rechter Mann kann nur der werden,
der auch einmal ein rechtes Kind gewesen ist.“
(Otto Julius Bierbaum)

Über die Vorgänge bis zu Beginn meines sechsten Lebensjahres bewahre ich fast keine Erinnerung, wie es ja überhaupt wenig Leute gibt, die sich an die Einzelheiten ihrer Kindheitsjahre zu erinnern wissen.

Ich war angeblich ein kräftiger und lebhafter Knabe und wohnte oft viele Tage bei einer jungverheirateten Tante; entweder, weil der Storch zufällig bei uns zu Gaste war oder damit der Tante nicht zu bange sei, wenn der Onkel für längere Zeit geschäftlich verreisen mußte.

Wenn dieser spät nachts von der Reise zurückkehrte, pflegte es ziemlich lange zu dauern, ehe er Licht machen konnte. Es gab damals noch keine Zündhölzchen; man bediente sich eines Feuersteines, Schwammes oder Stahles oder langer Papierstreifen, deren Enden in gelösten Schwefel getaucht waren. In besseren Häusern hatte man chemische Feuerzeuge, ewiger Fidibus genannt, die jedoch oft versagten.

Als sechsjähriger Knabe besuchte ich in Begleitung des gottseligen Vaters bei einem durchreisenden Marionettentheater eine Vorstellung von „Dr.Faust’s Hauskäppchen“, welche meine Bewunderung erregte; der Teufel spukte oft in meinen Träumen. An die Eindrücke dieses Abends erinnerte ich mich unwillkürlich, als ich im Jahre 1852 als Studierender in Wien zum erstenmale einer Aufführung von Goethes „Faust“ im Burgtheater beiwohnte. Die Eindrücke waren gleichzeitig „himmlisch“; die Studierenden gingen meistens auf die vierte Galerie, welche s.Zt. „Himmel“ genannt wurde.

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„Wenn jemand eine Reise tut,
so kann er was erzählen.“
(Claudius im Wandsbeker Boten)

Ich dürfte zirka sieben Jahre alt gewesen sein, als wir — meine gottselige Mutter, meine fünfjährige Schwester, ich und ein Kindermädchen — zu Besuch der Großeltern nach Iglau fuhren.

Es gab damals noch keine Eisenbahnverbindung dahin. Eine Postfahrt wäre zu unbequem und zu teuer gewesen und deshalb wurde von einem jüdischen Fuhrwerksbesitzer namens Gold aus Leipnik ein schöner einspänniger, mit Leinwandplache gedeckter Korbwagen nebst einem kräftigen Pferde und ein verläßlicher Kutscher für die Hin- und Rückfahrt gemietet.

Wir fuhren Mittwoch zwischen 3 und 4 Uhr früh vom Hause weg und waren Freitag nachmittags an Ort und Stelle.

Den freudigen Empfang kann man sich leicht denken; es war ja vermutlich der erste Besuch der Tochter seit ihrer Verheiratung.

Wir besuchten dort sämtliche Jugendfreundinnen der Mutter, welche mittlerweile auch geheiratet hatten; unter anderem auch eine verwitwete Frau Morawitz, deren Sohn später im Kriegsjahre 1866 Stationschef der Süd-Norddeutschen Verbindungsbahn in Pardubitz war und durch seine rechtzeitigen Dirigierungen viele Hunderte österreichischer Waggons dem Machtbereiche des vordringenden Feindes zu entziehen wußte.

Der Großvater zeigte mir nebst anderen für mein jugendliches Alter verständlichen Sehenswürdigkeiten auch den großen Platz, den größten aller Städte Mährens, ebenso die in einem einzigen Bogen über die Iglawa führende 96 1/2 Fuß (ca. 30 1/2 Meter) lange steinerne Brücke, auf deren Mitte das mährische und böhmische Landeswappen aufgestellt war. Es wollte mir nicht einleuchten, daß hinter der Brücke, auf dem linken Ufer der Iglawa, ein anderes Kronland, noch dazu ein Königreich sei. In meiner kindlichen Einfalt dachte ich, daselbst müsse auch das Erdreich von dem der mährischen Markgrafschaft verschieden sein!

Die Rückfahrt traten wir am nächsten Mittwoch zeitlich morgens an und trafen Freitag spät nachmittags zuhause ein. Unser erstes Nachtquartier nahmen wir in Brünn.

Ich hörte dort — es dürfte im Spätsommer 1840 gewesen sein — Wunderdinge von der im Bau befindlichen Eisenbahn erzählen, auf welcher ein Wagen, ähnlich einem eisernen Roß, Reisende und Frachtgüter auf weite Strecken befördern werde!

Es gelang mit mit vieler Mühe, durch die Spalten des Bretterzaunes, mit welchem der Bau der Bahnhofsgebäude umgeben war, dieses Ungetüm, „Lokomotive“ genannt, zu sehen.

Der Eindruck auf mich war überwältigend und das Rätsel der Konstruktion beschäftigte monatelang meine Phantasie, denn ich hatte schon als kleiner Junge die Gewohnheit zu spintisieren und irgendeine mich interessierende Idee bis zur Möglichkeit der Durchführung zu verfolgen. Ich legte in unserem Gartenlusthaus eine kleine Eisenbahnwerkstätte an.

Miniatur-Eisenbahnfrachtwagen zu konstruieren, war ziemlich leicht. Ein Kollege schenkte mir viereckige leere Holzschachteln, wie solche auch gegenwärtig zur Versendung von Zündholzpäckchen dienen, der Sohn des Seidenbandhändlers Boss schenkte die schmalen runden Holzrollen, von denen die Bänder vorher verkauft worden waren und welche sodann als Vollräder verwendet wurden; zwei aufeinander, mit dem einen Boden nach oben und dem anderen nach unten gestülpte Holzschachteln ergaben Personenwagen dritter Klasse; deren Fenstereinschnitte erhielten — gleich denen im Betriebe befindlichen Personenwagen derselben Klasse — verschiebbare Vorhänge aus Leder statt der Verglasung.

Dagegen war die Lokomotive das Sorgenkind, d.i. das Problem! Woher sie nehmen? Da sagte der Mitschüler Wolf, sein Vater habe das Modell einer solchen zuhause; aber dieses koste Geld! Ich erstand das Modell ungesehen auf Grund der Schilderung.

Unter nichtigen Vorwänden schob er die Ablieferung hinaus, trotzdem ich ihm durch viele, viele Wochen je 5 bis 6 Kreuzer von meinem Taschengelde bezahlte, und als endlich die Ausflüchte nicht mehr halfen, lieferte er:

ein großes Schreibzeug aus Blech,

von welchem das Tintenfaß als Modell für den Schornstein, der dünne Federhalter die Dampfpfeife, die Streusandbüchse den Dom und die vier runden Bodenstützen die vier Räder ersetzen sollten. Das Weitere: als Kessel, Ventile, Pleuel- und Schieberstangen usw. sollte ich selbst ersinnen!

Ich stand nun an der Grenze meines Könnens und mußte von der Konstruktion der Lokomotive absehen, da ich bis dahin nur einmal und sehr flüchtig aus weiter Entfernung ein solches Ungetüm gesehen hatte.

In gegenwärtiger Zeit sind Miniatur-Lokomotiven durch Federn, durch Spiritus oder durch Elektrizität bewegungsfähig und sie sind in jeder besseren Spielwarenhandlung erhältlich, so daß die Kinder schon in frühester Jugend blasiert werden.

Um das Jahr 1840 war die kombinierte Erfindung eines James Watt und Stephenson — welch letzterer am 27.September 1821 die erste Eisenbahn in England zwischen Stockton und Darlington errichtet hatte — in Miniatur-Konstruktion nirgends zu kaufen.

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Während der Rückfahrt von Iglau verhielten wir uns — meine kleine Schwester und ich — auffallend still.

Die Ursache kam erst am Sabbat ans Tageslicht: wir saßen auf der Rückreise hinter dem Fond des Wagens bei den Fleischtöpfen Ägyptens, das heißt, wir hatten während der zweieinhalbtägigen Fahrt das uns von der Großmutter als Mitgebrachtes in den Körben eingepackte Zuckerwerk etc. fast bis zur Gänze aufgegessen.

An schlagender Anerkennung seitens des Vaters hätte es gewiß nicht gefehlt, wenn nicht unser glänzendes „Debut“ im Naschen mit einem heftigen „Durchfall“ geendet hätte.

9. Kapitel

Die Kenntnisse aus den für die unteren Klassen der Volksschule vorgeschriebenen deutschen Gegenständen wurden mir während der zwei bis drei Unterrichtsstunden an den Vor- und Nachmittagen der Werktage in der jüdischen deutschen Trivialschule beigebracht.

Am Schlusse eines jeden Schuljahres fand die öffentliche Prüfung in Anwesenheit des katholischen Erzpriesters — der als behördlicher Schulinspektor fungierte — und fast aller Eltern statt. Selbstverständlich wurden nur die besten Schüler und Schülerinnen aufgerufen. Jeder wußte im Vorhinein, welche Fragen der Lehrer an ihn stellen werde; Überraschungen waren ausgeschlossen, da der Erzpriester, in der Regel ohne selbst zu prüfen, nur aufmerksam zuhörte.

Je ein Schüler und eine Schülerin sprachen abwechselnd ein vom Lehrer verfaßtes Eröffnungs- und Schlußgedicht, voll von Lob für den Schulinspektor, dazwischen trugen andere Schüler Bruchstücke aus verschiedenen Lesestücken vor.

Die besten Schüler wurden mit Gebet- und Lesebüchern als Prämie bedacht und es gab Prämianten ersten und zweiten Ranges je nach der Klassifikation.

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Der Lehrer war sehr streng; das Lineal und das Weinrebstaberl waren wesentliche Unterrichtsbehelfe und es geschah sehr häufig, daß durch turnerische Wendungen (das ist geschicktes Wegbiegen) der Nachbar des räudigen Schafes die diesem zugedachten Schläge erhielt.

Mir ist ein Fall erinnerlich, daß die beste Schülerin, namens Betti Bruck, deren träge Nachbarin (Rifka Mayer) bestraft werden sollte, durch das ausgleitende Lineal eine derartige Verletzung an der Stirne erhielt, daß dies nach dem jetzt gültigen Schulgesetze die strafrechtliche Ahndung des Lehrers zur Folge gehabt hätte.

Sie lebt gegenwärtig als Private in Brünn und könnte als Kronzeugin dienen. Sie erinnerte mich nach Empfang eines Exemplares der ersten Auflage meiner Broschüre daran, daß sie einmal bei einer Deklamation des Schiller’schen Gedichtes: „Die Worte des Glaubens“ in Gegenwart des staatlichen Schulinspektors in ihrer Befangenheit steckenblieb und es nur zu „zwei“ Glaubensworten brachte! Derselbe ermutigte sie, auch das dritte nachzuholen, denn „dem Menschen sei aller Wert geraubt, wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt“.

Das Schönschreiben war uns der liebste Gegenstand; rastierte Schreibhefte und Stahlfedern existierten damals noch nicht und so verbrachte der Lehrer die ganze Stunde mit dem Linieren der Hefte und mit dem Schneiden der Kielfedern 1).

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Knapp vor Vollendung meines zehnten Lebensjahres fuhr der Lehrer mit mir und sechs bis acht gleichalterigen Mitschülern nach Leipnik, wo wir im Konvikt der Piaristen die Prüfung aus den Gegenständen der dritten Klasse, die nach gegenwärtiger Schulordnung der fünften Klasse entsprach, ablegten. Der Piaristenpräfekt war nämlich zur Erteilung von staatsgültigen Zeugnissen berechtigt.

Selbstverständlich erhielten wir aus sämtlichen Gegenständen die damals beste Note „sehr gut“. Eine mindere Klassifikation wäre für den Lehrer eine Beschämung gewesen.

Als Belohnung für den guten Ausfall der Prüfung reiste der Lehrer am nächsten Mittwoch mit uns nach Olmütz. An diesem Tage fand der Hauptwochenmarkt statt, weil die auswärtigen Juden den Samstagmarkt nicht besuchen konnten. Wir fuhren in einem großen Leiterwagen, in welchem nur der Sitz für den Lehrer gepolstert war; für uns Knaben hingen die Brettersitze in Stricken.

Nach Besichtigung der Sehenswürdigkeiten — in erster Linie die von dem berühmten Meister Anton Pohl im Jahre 1422 verfertigte, aber bereits seit Jahrhunderten stillstehende, sagenumwobene astronomische Uhr — verbrachten wir viele Stunden im Kaffeehaus Fichtner, woselbst wir unser für diese Reise monatelang gespartes Geld in Gefrorenem und Kümmelwecken umsetzten. Diese waren damals nebst den wohlriechenden Neboteiner Quargeln die zweite Spezialität von Olmütz. Als unangenehmes Nachspiel stellte sich am nächsten Tag bei mir ein heftiger Magenkatarrh mit hohem Fieber ein.

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Jüdisches Wissen als: Lesen, Grammatik, Kenntnis der Bibel (s.Anm.20), d.i.der Thora, der Psalmen, der Propheten und der Gemarah, lernte ich im Cheder (jüdische Privatschule) in der Regel von zehn bis zwölf vormittags und von drei oder vier bis sieben nachmittags bezw. abends.

Im Winter trug jeder Knabe auf dem Rückweg eine Handlaterne, da die öffentliche Beleuchtung sehr viel zu wünschen übrig ließ.

Die Prerauer Judengasse bildete nämlich im Gegensatze zu den 13 anderen Städten Mährens kein abgeschlossenes Ghetto, denn zwischen den den Juden gehörigen Häusern befanden sich auch die vieler christlicher Besitzer; das ehemalige Ghetto (welches vor langer, langer Zeit zwischen dem Travnik und der Sirava bestanden hatte) wurde sehr oft von Brandstiftern heimgesucht.

Da es anfangs der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts noch keine nationalen Streitigkeiten gab, so mußten wenigstens Kompetenz-Streitigkeiten darüber herrschen, ob und in welchem Maße die jüdische oder die christliche Gemeindeverwaltung für die Beleuchtung zu sorgen habe!

Nach dem bekannten Sprichworte: „Duobus litigantibus tertius gaudet“, wurde zur Freude der Laternenanzünder und der Lichtfeinde (z.B.Diebe) während des Streitverfahrens entweder gar nicht oder nur höchst mangelhaft beleuchtet. Am besten funktionierte die „Vollmond-Beleuchtung“!

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Die örtliche Absonderung der Juden von den Christen und die Errichtung eigener Judenviertel erfolgte systematisch erst unter Kaiser Karl VI., mit Dekret vom 27. Juni 1727. Dieser verbot den Juden das Wohnen in der Nähe von Kirchen und bestimmte, daß alle nahe den Kirchen gelegenen Judenhäuser und Synagogen verlegt und die mit christlichen vermischten Judenhäuser ausgewechselt werden sollten. So entstanden an manchem Ort ganze Gassen oder Stadtteile, welche ausschließlich von Juden bewohnt waren. Die den Juden zugewiesenen Stadtteile waren jedoch gewöhnlich in ihrem Verhältnis zu ihrer Anzahl räumlich unzureichend, so daß die Bewohner zusammengepfercht und aufeinander gedrängt wohnten. Solche Separationen erfolgten in 13 Orten Mährens (Dr.Haas: pag.10).

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Am Freitag Vormittag fehlte es an der rechten Lehr- und Lernstimmung; von zehn bis zwölf rekapitulierte man die Sedra des nächsten Tages (Wochenabschnitt aus der Thora), rezitierte die Haftara mit den üblichen Neginaus als: sarko, segaul usw. und wartete ungeduldig auf den zwölften Glockenschlag, da man zum Mittagstisch frisch gebackene Kolatschen erhielt.

Am Erew schowuaus waren es sogar „Doppelkolatschen“, so genannt, weil sie auf beiden Flächen mit Powidel (Pflaumenmus) und Topfen belegt waren 1).

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Sabbate und Feiertage waren selbstverständlich ganz schulfrei, außerdem nur die Nachmittage am Freitag, Rauschchaudesch und Jahrmarkt; da konnten wir uns nach Herzenslust austoben.

An jedem Jahrmarkt bekam ich von den Großeltern, den Onkeln und Bekannten je einen Kreuzer als Jahrmarktsgeschenk; ich kaufte mir dafür frisch gebackene Kipfel, die ausnahmsweise am Jahrmarkt auch nachmittags zu bekommen waren. Es ist zum Staunen, woher ich trotz des minimalen Taschengeldes noch Geld für Allotria hatte. So kaufte ich einmal einige Pfund Steinsalz, welche ich in unseren Hofbrunnen warf, um das schlechte Wasser zu verbessern.

Es wurde gerade damals die Erzählung aus dem zweiten Buch der Könige, K.2, V.19-22, vorgetragen, laut welcher der Prophet Elisa in das Wasser der Stadt Jericho eine Schale mit Salz gefüllt warf, wodurch dieses tatsächlich verbessert wurde.

Bei unserem Brunnen bewährte sich das Salz nicht, wahrscheinlich war das Quantum zu gering oder hatte das Wieliczka-Salz nicht denselben Salzgehalt wie das von Palästina. Ich versuchte es kurz darauf mit Bitterholz, da wir den Wochenabschnitt in II.Moses, K.15, V.23/25 memorierten. Ob es besseren Erfolg hatte, ist meinem Gedächtnisse entschwunden.

Von den schulfreien Zeiten machte ich ausgiebigen Gebrauch; im Sommer in unserem großen Garten, wo ich jeden Baum ohne Leiter erklettern konnte und in dem links anstoßenden Garten des Nachbars Chwalek, woselbst mir die Kirschen und das andere Obst besser schmeckten. Einen Baum voll Äpfel, Birnen, Zwetschken u.dgl. sehen und nicht einige Steine hinaufwerfen bis ich meinen Tribut hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit für mich, obwohl wir auch zu Hause Obst genug hatten; schmeckt doch bekanntlich „selbst erbeutetes“ Obst viel besser als ehrlich erworbenes, auch wenn ersteres sauer und letzteres süß ist. Das war, denk’ ich, von jeher so und wird auch so bleiben.

Einmal wurde ich erwischt und mußte, trotz der erhaltenen reichen Tracht Prügel, Rock und Hose als Entschädigung zurücklassen.

Um in Hinkunft nicht in ähnliche Situationen zu geraten, versteckte ich mir später im elterlichen Garten einen wertlosen Kletteranzug, durch welchen der obgenannte Nachbar, wenn er mich erwischt hätte, den Regreß und die Genugtuung nur in den erteilten Prügeln gehabt hätte.

Viel Schlimmeres wäre mir einmal von dem Nachbarn zur Rechten des großväterlichen Gartens, einem gewissen Neumann, zugefügt worden.

Dieser hielt mehrere Kuhländer Kühe, von deren Milchertrag er seinen Lebensunterhalt bestritt.

Durch die Spalten des Bretterzaunes sah ich aus Neugierde einmal zu, wie er die Kühe in seinem Hofe wusch. In seiner Beschränktheit dürfte er des Ajin hora (mal’occhio, Böser Blick) wegen eine Milchabnahme der Kühe befürchtet haben und warf eine scharfe Hacke nach mir, welche in dem Brette oberhalb meines Kopfes stecken blieb.

Friedenshalber wurde von einer Strafanzeige abgesehen.

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An den Werktagen der Sommermonate spielten wir im Freien Pinzgerl — auch kurz Semel-Bis genannt -, welches jedoch seitens der Orthodoxen nicht gerne gesehen wurde.

Am Sabbat und Jaumtauw Nachmittag pflegten wir — da profane, d.i. körperliche Spiele Anstoß erregt hätten — sprachliche Tourniere abzuhalten. Dies geschah in der Weise, daß abwechselnd je einer der ältesten, bezw. der besten Schüler aus unserem Cheder mit einem gleichaltrigen bezw. gleichtüchtigen Kollegen aus dem gegnerischen Cheder ein etymologisches Wortgefecht führte.

„Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ (Goethe, Faust)

Der eine nannte ein hebräisches Wort, welches einsilbig war und nur aus zwei Buchstaben bestand, z.B. ab (Vater); der Gegner durfte sein Schlagwort nur mit dem Endbuchstaben beginnen, d.i.mit b, z.B. bn (ben = Sohn), worauf das Wort des ersten wieder nur mit einem N anfangen durfte, z.B. nr (ner = Licht) usw. Je nach dem Wortschatz des einen oder des anderen konnte ein derartiges Wortgefecht Stunden dauern.

Besiegt war derjenige, der das passende Gegenwort nicht finden konnte; dies war der Fall, wenn das gegnerische Wort mit einem WAW, d.i. W endigte, z.B. lw (law = ihm), weil in der hebräischen Sprache kein einsilbiges, aus zwei Buchstaben bestehendes Wort mit W beginnt.

Dieses Wortspielen nannte man „Plewenen“, welches von Plewy (Spreu) oder von Plewiti (mengen) herrührt (Dr.Friedländer: „Tiferet Jisroel“)

Wir waren stolz, wenn der Kämpfer unseres Cheders Sieger blieb und deshalb wählten wir (wie s.Zt. die Horatier und Curiatier) stets die tüchtigsten Kenner der hebräischen Sprache; ob ich unter ihnen war, will ich, um nicht als „unbescheiden“ zu gelten, verschweigen.

Unser Wintersport bestand im Herabsausen auf Handschlitten vom steilen Oberring, was fast so gefährlich war, wie gegenwärtig eine Rodelfahrt vom Altvater oder von der Schneekoppe oder vom Jeschken; ferner im Eislaufen.

Man glaube ja nicht, daß ich von den Eltern Geld zum Ankauf von Schlittschuhen bekam; diese waren damals als Neuheit unerschwinglich teuer. Als Anfänger machte ich meine Erstlingsversuche mit dem abgenagten starken Brustknochen einer gebratenen Gans 1), man schnürte damals den Schlittschuh nur am rechten Fuß an. Später ließ ich mir auf der Schneide eines gehobelten konischen Holzes einen dicken, scharfkantigen Eisendraht befestigen; ich konnte im Bogen und in Figuren fahren und trotzdem verlief alles glatt und ohne Beinbrüche; schlimmstenfalls gab es blutige Nasen.

Am Oberring stand die Statue von Amos Comenius (geb. in Ungarisch-Brod 1592, gestorben in Amsterdam 1671), welcher vom Jahre 1614 bis 1618 als Lehrer der Brüderschule in Prerau lebte. Diese Statue bildete stets das Ausgangs- und Endziel unserer Wettläufe, da dort, außer an Markttagen, eine idyllische Ruhe herrschte.


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