Ignaz Briess — Ghettoleben


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15. Kapitel

Freitag vormittag buken die Frauen Kolatschen, Gugelhupf und Barches (geflochtenes Weißbrot); sie nahmen von dem Teig Challoh (eine Opfergabe, s. IV.Moses, K.15, V.20), verbrannten sie und bereiteten die Speisen für den Sabbat. Der Freitag-Nachmittag wurde schon als Halbfeiertag betrachtet.

Im Winter wurde bereits um 3 Uhr und im Sommer um 6 Uhr nachmittags jede geschäftliche Tätigkeit eingestellt und „Sabbatruhe lag über der Judengasse“. Die Kinder wurden gewaschen, mit reiner Wäsche und den Feiertagskleidern angetan, nachher nahmen die Männer und die Frauen dieselbe Prozedur an sich selbst vor.

Die erwachsenen frommen Juden pflegten sich mindestens einmal in der Woche am Freitag oder vor einem jüdischen Feiertag mit einem Brei, kurz „Aurum“ genannt, zu barbieren, da sie die Verwendung eines Rasiermessers verschmähten. Dies geschah wegen der zu engherzigen Auslegung des biblischen Verbotes: „Taar lau jaawaur al rauschau“, d.i. ein Schermesser soll nicht auf sein Haupt kommen (IV.Moses, K.6, V.5), was, streng genommen, sich nur auf die Nasiräer oder nur auf diejenigen bezieht, welche ein Enthaltsamkeitsgelübde abgelegt hatten u.zw. nur für die Dauer des Gelübdes.

Der Brei bestand aus zwei Teilen aurum pigmentum (Schwefelarsen) und einem Teil ungelöschtem Kalk, welchen man mit Wasser verdünnt hatte und wurde dann mit einer breiten stumpfen Messerklinge auf beiden Wangen aufgetragen und nach einer Viertelstunde mit einem Holzmesser entfernt. Während der Auflösung des Breies entstand ein penetranter Schwefelgestank. Bei unrichtiger Mengung verursachte der Brei schmerzhafte Wundblasen, welche das Gesicht entstellten und bei manchen Begegnenden den Anschein erweckten, als wären sie Schreibübungen der besseren Hälfte des damit Bedeckten, namentlich wenn diese in dem Rufe einer Xanthippe stand. Auch sonst war es kein ästhetischer Anblick, wenn der Pater familias mit dem Aurummörtel auf beiden Wangen im Wohnzimmer auf und ab ging. Die frommen Juden des Ostens lassen die Haare an beiden Schläfen stehen, weil es im III.Moses, K.19, V.27 heißt: „Lau szakifu peas rauschechem, wlau zaszchis ehs peas skonecho“, d.i. ihr sollt das Haar nicht rund am Haupte und an den Schläfen abnehmen, auch sollst du die Ecken deines Bartes nicht glatt abputzen. Aus Eitelkeit lassen die meisten die langen Schläfenhaare in Locken rollen, welche man Peies nennt.

Die Frau kleidete sich in weiße Gewänder, setzte eine schöne, buntbebänderte Haube auf und stellte auf dem zum Abendbrot appetitlich hergerichteten Tische die zwei Sabbatkerzen, welche gemäß der Anordnung unserer Weisen, ohne Rücksicht auf das in allen Gotteshäusern täglich brennende „ewige Licht“ (ner tomid, Moses II., K.27, V.20/21 und Traktat Sebachim), an jedem Vorabend des Sabbat und der Feiertage unter Verrichtung des betreffenden Segensspruches angezündet werden mußten. Diese sollten symbolisch „die Juden aus dem Dunkel und der Düsterheit des Alltages in eine leuchtende Stelle der göttlichen Ruhe führen“.

Bei den gottseligen Großeltern hing ober dem Speisetisch eine Messinglampe, in deren acht schnabelförmige, nach oben offenen Hohlräume Öl gefüllt und Dochte eingelegt wurden, die man am Freitag abend anzündete. Diese muldenförmigen Entenschnäbel wurden, in ähnlicher Weise gefüllt, auch als Chanukalichter verwendet. Die Großeltern pflegten zu erzählen, daß ihre Eltern für jede am Freitag abend neben der Messinglampe angezündete Kerze eine nur den Juden auferlegte Lichtsteuer entrichten mußten.

Sobald der Hausvater vom Abendgottesdienste nach Hause kam, welcher ziemlich lange dauerte, besonders wenn sich der Chasan beim Lechodlaudi mit neuen Melodien produzierte, verrichtete er ein Gebet, in welchem er auch besonders hervorhob, daß er zur Weihe des Sabbat die Werktagskleider abgelegt und die für den Sabbat bestimmten angelegt habe. „Wheihlafti szimlaussi lichwaud haum haschabbos.“ 1) Nach stattgefundenem Waschen der Hände seitens aller Tischgenossen wurde das Abendessen aufgetragen; vor dessen Beginn sprach der Vater den Kiddusch über den Wein und die mit einem weißen Seiden- oder Leinentuch zugedeckten zwei Barches (Lechem Mischne).

Zum Kiddusch, zur Habdala und zum Seder durfte man nur einen Wein verwenden, welcher unter rabbinischer Aufsicht gekeltert und aufbewahrt worden war. Das Mehl zu den Mazzes durfte nur aus gesundem, das ist nicht ausgewachsenem Weizen und nur unter rabbinischer Kontrolle gemahlen und eingesackt werden. Auch die Erzeugung von Zucker und Zichorie, welche in den Pessachtagen verbraucht werden sollten, stand unter jüdischer bezw. rabbinischer Beobachtung. Die Entschädigung für die Beaufsichtigung und für die darüber ausgestellten Hechscher-Zertifikate (Zeugnisse) bildete, namentlich in kleineren Gemeinden, eine nicht unbedeutende Ziffer unter den Emolumenten des Rabbiners.

Von einer der beiden Barches schnitt der Hausvater erst für sich, sodann für Frau und Kinder und sonstige Anwesende je ein Stückchen ab, nachdem er zuvor den Segensspruch „Hamauzi lechem“ (Dank an Gott für die Erschaffung des Brotgetreides) verrichtet hatte, ohne welchen man vorher nichts genießen durfte.

Während des Abendessens kam die christliche Aushilfsdienerin, Schabbosgojte genannt (damals durfte man bloß jüdische Dienstboten halten, s. Scari, § 100), sehr oft ins Zimmer, um die Schnuppen der Talgkerzen mit der glänzenden Messinglichtschere zu schneuzen. Etwas später kam sie die Kerzen auslöschen, da sowohl dieses als auch Heizen und Kochen am Sabbat nach biblischem Gesetz verboten war. „Lau swaaru esch b’chaul mauschwauszechem.“ (II.Moses, K.35, V.3).

Aus dieser Ursache behalf man sich am Sabbat im Sommer mit dem Schaletessen (s.Anm.28); je nach den Vermögensverhältnissen der betreffenden Judenfamilien sandte man Kaffee, Eier, Suppe, Fleisch, Braten, eventuell auch Ritschet (Graupen mit Erbsen), Kugel und Ganef (eine fette, schwerverdauliche Mehlspeise) bereits Freitag nachmittags in zugedecktem, mit Teig verklebtem und mit Adresse versehenem irdenem Geschirr zum jüdischen Bäcker, damit sie über Nacht in seinem Backofen schmoren und ließ hievon am Sabbat früh den Kaffee zum Frühstück und später die anderen Speisen zum Mittagstisch abholen.

Trotz der Abzeichen auf den Geschirren kamen Verwechslungen vor, und wenn man zufällig einen schlechten Tausch gemacht hatte, war die Hausfrau untröstlich und die Sabbatfreude „Auneg schabbes“ verdorben.

Man erzählte sich: Das arme, kinderlose Ehepaar J. in Prerau lebte in stetem Unfrieden; der Ehegatte J. war durch seine Grobheit berüchtigt. An einem Sabbat geschah mit der Schaletkugel eine Verwechslung, indem die Frau J. anstatt ihrer mageren ärmlichen Grießkugel eine fette Lokschenkugel (breite, mit Gewürz bestreute Nudeln) erhielt. Der Ehegatte gab seiner Frau den ersten Anschnitt und redete ihr überhaupt zu, recht viel von dieser besseren Kugel zu essen. Frau J. war über diese ungewohnte Aufmerksamkeit sehr erstaunt und drängte ihn, sein Benehmen zu erklären und da sagte derselbe in seiner urwüchsigen Lieblosigkeit: „Die Frau X., welche deine schlechte Kugel erhielt, wird sich gewiß gedacht haben, der Empfänger meiner Kugel soll beim ersten Bissen ersticken, und deshalb gab ich dir den ersten Anschnitt.“

Im Herbst, Winter und Frühjahr wurden die am Freitag vorgekochten Speisen in der Röhre des durch die genannte Aushilfsdienerin geheizten Ofens gewärmt.

* * *

Der Sabbat Vormittag war ausschließlich der synagogalen und häuslichen Andacht geweiht.

Bei Tagesbeginn ging der Hausvater zu Schachrit. Nach Rückkehr in die Wohnung wurde über Likör Kiddusch gesprochen mit den Worten: „Weschomru bne Jisroel es haschabbot“, d.i. „Die Kinder Israels sollen den Sabbat feiern.“; (II.Moses, K.20, V.8-11 und III.Moses, K.23, V.3) und nachher ein opulentes Frühstück eingenommen, bestehend aus Backwerk und kräftigem Kaffee.

Es ist bezeichnend für das religiöse Gefühl der Juden, daß sie vor dem Genusse einer Speise, eines Getränkes, beim Riechen zu Blumen, beim Anblicke eines Regenten, bei wichtigen Naturerscheinungen usw. ein Dankgebet an den allgütigen Gott richteten.

Zum Mussafgottesdienst, der gegen 10 oder 10 1/2 Uhr begann, schlossen sich dem Familienvater die Gattin und die älteren Knaben an, alle festlich gekleidet.

Während der Leienens, das lange dauerte, besonders wenn zwei Sedras (Wochenabschnitte) verlesen wurden, dürften die Frauen mit ihren Nachbarinnen vorwiegend Toiletten- und Dienstbotenangelegenheiten besprochen haben, was angeblich auch in der Jetztzeit das übliche Gesprächsthema bei Zusammenkünften der Damen bildet (s.Anm.29).

Die älteren Männer gingen nach dem samstägigen Nachmittagsschläfchen — an Wochentagen konnten sich die wenigsten einen solchen Luxus gönnen — zum Bahnhof, d.i. dem beliebtesten Spaziergang einer Kleinstadt; lasen nach Rückkunft im Sommer einen Abschnitt aus den Pirke owaus (Kernsprüche der Väter) und im Winter den Borchi Nafschi, d.i.aus den Psalmen die Kapitel 104, 120 bis einschließlich 134. Als Vesperessen dienten die vom Freitag Abend und Samstag Mittag zurückgebliebenen Speisereste. Man nannte dieses Szude schlischi (dritte Mahlzeit), verstümmelt: Schalszudes.

Im Gegensatz zu den Männern lasen die älteren Frauen nachmittags bis zum Mincha den am Vormittag in der Synagoge im Urtext gehörten Wochenabschnitt aus dem deutschen Chumesch in deutscher Übersetzung, oder die Tchino (Andachtsbuch für Frauen), während die jüngeren in Begleitung ihres Gatten oder allein Besuche machten, welche streng nach der Etikette geregelt waren.

Die Frauen der Familien Br., Gr., Lw. und Pk., welche die haute volée bildeten, waren miteinander sehr befreundet. Wenn sie sich gegenseitig Besuche abstatteten, sprachen sie einander nicht mit dem Familiennamen sondern nur mit „Frau Gevatterin“ an. Dies war darauf zurückzuführen, daß sie einander bei dem häufigen Familienzuwachs Gevatterschaft leisteten, wenn nicht besondere Gründe für eine andere Wahl vorlagen.

Einige Patenkinder fanden sich jedoch nicht im geringsten veranlaßt, gegen die Gevatterin oder ihre Angehörigen Freundschaftsgefühle zu hegen.

Ein Patenknabe meiner gottseligen Eltern, der später nach mühseliger Absolvierung der Matura Juris-Doktor geworden, hätte mich in dieser seiner Eigenschaft bald durch unrichtige Interpretation eines nichtverstandenen Satzes aus der ersten Auflage meiner Broschüre in eine Ehrenbeleidigungsklage verwickelt.

Sagt ja doch Goethe: „Im Auslegen seid frisch und munter, legt Ihr’s nicht aus, so legt was unter!“

Die im Orte verheirateten Kinder besuchten fast täglich ihre Eltern; die Enkel kamen obligat Freitag abends nach dem Nachtmahl.

Sie wurden gebenscht (gesegnet). Sowohl der Großvater als auch die Großmutter sprachen beim Auflegen der Hände auf den Kopf des Enkels bezw. der Enkelin den Segensspruch, daß sie dem Ephraim und Manasse bezw. den Frauen der Patriarchen nachgeraten mögen.

Sämtliche Anwesende wurden mit „geschwollenen“ d.i. geschwellten, durch Pfeffer gewürzten Erbsen bewirtet.

Beim Besuch am Sabbat Nachmittag erhielten sie im Sommer und Herbst frisches Obst und im Winter und Frühjahr gedörrte Äpfel- und Birnenschnitten, „Schnitz“ genannt.

Am Sabbat und Feiertag ruhte jede geschäftliche Tätigkeit, die Religion durchdrang und beherrschte alles; Geld wurde nicht in die Hand genommen und die eingelaufene Korrespondenz vor der Habdala (Trennungszeremonie zwischen Sabbat bezw. Feiertag und Werktag) nicht eröffnet.

Erst nach dieser Verrichtung, wobei der jüngste ledige Sohn oder der jüngste Enkel den angezündeten geflochtenen Wachsstock so hoch als möglich in den Händen hielt und von dem Habdalawein einen Schluck getrunken hatte — die anwesenden älteren männlichen Hausgenossen befeuchteten mit dem auf dem Wachsstock behufs Verlöschen ausgegossenen Wein ihre Hosentaschen, damit es nach einer alten Überlieferung Reichtum und Glück bringe — und nach Absingen des „Hamawdil ben Kaudesch L’chaul“ (eine Hymne über den zur Neige gegangenen Sabbat bezw. Festtag und Bitte um Glück für den kommenden Werktag und nachdem man sich gegenseitig „Gutwoch“ (verstümmelt von: Eine gute Woche) gewünscht hatte, legte man die Festkleider ab und es begannen die Vorbereitungen für die nüchterne Alltagsbeschäftigung und so ging es in gleichem Ebenmaß durch Wochen, durch Monate, durch Jahre, immer fort, fast ohne Erholung.

„Der Jude fühlte sich glücklich im trauten Familienleben; die religiöse Feier am Sabbat und Feiertag gab dem Dasein eine besondere Weihe und entschädigte ihn für die Unbilden der Außenwelt.“

Im großen und ganzen herrschte im Ghetto Friede, aber keine Freude; die meisten Gesichter hatten einen Sorgen- oder Leidenszug, der selbst in der Gegenwart noch nicht ganz verschwunden ist.

* * *

Als Vorboten des 9. Ab (Tischoh be ab), eines Trauer- und Fasttages für die Juden aus Anlaß der durch Nebukadnezar bezw. durch Titus stattgefundenen Zerstörungen des ersten und zweiten Tempels zu Jerusalem, begannen in der zweiten Hälfte des Monats Tamus die sogenannten drei Wochen; während derselben durfte man sich weder barbieren noch das Haar scheren lassen. Unterhaltungen waren ebenfalls verboten. Beim Abendgottesdienst (Maariw) des 8. Ab begann bereits die Trauerfeier. In der matterleuchteten Synagoge war jeder Schmuck entfernt; die heilige Lade (oraunhakaudesch) war ohne Prauches, die üblichen Gebete wurden mit halblauter Stimme verrichtet. Sämtliche Anwesende trugen zum Zeichen der nationalen und religiösen Trauer alte defekte Kleider, kauerten auf Fußschemeln und rezitierten in wehmütigen Melodien die uralten, herzerschütternden Klagelieder (Ejechos) des Propheten Jeremias. In den Wohnungen war alles still und traurig, man grüßte einander nicht, denn niemand wagte laut zu sprechen. Beim Schachris des 9. Ab folgten auf die Ejechos die Kinnaus (Trauerbetrachtungen). Der Chasan, der Rabbiner und alle angesehenen Gemeindemitglieder bemühten sich, die einzelnen Kapitel mit erschütternden Stimmen vorzutragen. Besonders ergreifend war das durch den Rabbiner rezitierte: Arse Halbanon (Zedern des Libanon). Es war kein Beten, eher eine Anklage Gottes und der Welt über die Schmach und die Erniedrigung der Thora und ihrer Träger.

Diese Trauerstimmung erstreckte sich jedoch nicht auf die halbwüchsigen Knaben, welche in der Synagoge den größten Ulk trieben, indem sie die Rockschöße zweier oder mehrerer nebeneinander sitzender Männer zusammennähten und aus dem Hintergrunde viele entfernt Sitzende mit Kletten, Disteln und Stechapfel-Kränzen bewarfen. Letztere sollten die Sturmgeschoße und Pechkränze der belagernden Feinde versinnbildlichen. So wird manches ehrwürdige Alte im Laufe der Zeit entstellt! (Unter teilweiser Benützung des Artikels: Tischa-Beab in früheren Zeiten, von Fabius Schach in Berlin. Siehe „Jüdische Volksstimme“ Nr. 30 vom 10.August 1921.)

Nach Beendigung des Schachrit-Gebetes begab man sich auf den Friedhof und ging innerhalb der Umgrenzungsmauer dreimal herum. Dann legte man auf die Grabstätten der Verwandten und Bekannten je ein Steinchen als Zeichen der Erinnerung.

Nach Rückkehr vom Friedhof oder am Nachmittag lasen die älteren Juden das Buch Hiob. Sie waren voller Hoffnung, daß der allgütige Gott die Geschicke der Israeliten so gestalten werde, wie er seinerzeit das Unglück Hiobs in Glück gewendet hat, und gemäß der im Schlußkapitel der Klagelieder vorkommenden prophetischen Verheißungen (Temaher Jeschuoh) „in naher Zukunft ein verjüngtes Jerusalem mit einem hehren Tempel der Gerechtigkeit und Menschenliebe entstehen werde“, durch welche Friede und Eintracht zwischen allen Menschen und allen Religionen beständig herrschen wird 1).

Das Abendbrot nach Ausgang des Tischo be ab — nach 24- bis 26stündigem Fasten — bestand aus obligaten Butterkrapfen zum Kaffee und aus Backfischen, da der Fleischgenuß, welcher während der ersten neun Tage des Monates Ab mit Ausnahme des dazwischenliegenden Sabbat Chason allgemein verboten war, erst vom nächsten Tag, d.i. vom 10.Ab angefangen, gestattet war.

Die überfrommen Juden (die sogen. Chassidim) gönnten sich den Fleischgenuß erst am Sabbat Nachmu.

Ein unglücklicher Zufall wollte es einmal, daß dem einzigen damals in Prerau vorhandenen jüdischen Fleischhauer (Katzew) Freitag vormittags vor Schabbes Nachmu sämtliche geschlachteten Stücke Rindvieh „trefe“ erklärt werden mußten.

Koscherfleisch konnte wegen der Kürze der Zeit nicht mehr — selbst von auswärts nicht — beschafft werden; man mußte sich mit Geflügelbraten behelfen, wodurch das sonst für den „ausgezeichneten Sabbat“ (es gab deren fünf bezw. elf im Jahre) übliche lukullische Menu zum Leidwesen der Hausfrauen ausfallen mußte.

Wegen des Jähzorns des Fleischhauers Chajem Schmied, welchem durch den Nichtverkauf von Koscherfleisch ein großer Schaden entstanden war, wagte der gewissenhafte Schochet (der rituelle Schlächter) durch einige Tage nicht, sich vor ihm sehen zu lassen.

Weniger gewissenhaft soll es im Jahre 1900 in einer benachbarten freisinnigen Gemeinde der Schochet Drkr mit seinem Berufe genommen haben.

Er erklärte manches Trefefleisch für koscher und als nach längerer Zeit dieser Unfug zur Kenntnis der rituellen Aufsichtsorgane gelangte, ließ man Gnade für Recht walten und anstatt den pflichtvergessenen Schochet zu entlassen, suspendierte man ihn mit Rücksicht auf seine kranke und zahlreiche Familie nur für mehrere Monate von seinem Posten.

Die moderne Fleischbeschau ist wahrscheinlich weniger rigoros als die mosaische.

Die hygienische Fürsorge Moses’ war staunenerregend und grundlegend für die Prophylaxis späterer Jahrtausende. Die Waschungen beim Erwachen am Morgen vor dem Verrichten des Gebetes, das Händewaschen vor jeder Mahlzeit, nach jeder Notdurftverrichtung, nach Berühren von Kranken, nach Rückkunft von einem Leichenbegängnisse usw. bestand demzufolge bei den Juden seit unzähligen Jahren.

Der Talmud enthält ein besonderes Kapitel mit der Überschrift „Das Waschen der Hände“ und damit auch jedermann sich darnach richte, so wurde es seitens unserer Weisen als religiöses Gebot hingestellt mit den Worten: „Gelobt sei Gott, der uns das Händewaschen befohlen hat; denn Reinlichkeit führt zur Reinheit der Sitten, zur Enthaltsamkeit und endlich zur wahren Frömmigkeit.“ (Psalm 26, V.6 und Psalm 73, V.13) Der Arzt Dr. Henri Rondet in Neville sur Saone, der das Waschen der Hände als Mittel zur Abwehr des Typhus empfohlen hat („Österr.Wochenschrift“ vom 21.Feber 1913), scheint diese uralte Anordnung nicht gekannt zu haben.

* * *

Bei schwerer Erkrankung ließen die Angehörigen und Freunde des Patienten für diesen in der Synagoge beim Thoraverlesen einen Mischeberach machen (d.i. ein Gebet für die Genesung); man verschenkte auch einige Kleidungsstücke des Patienten an Arme.

Bei zunehmender Gefahr ließ man in der Synagoge vor geöffneter Bundeslade Thillin (Psalmgebete) sagen, Geld an Arme verteilen und dem Kranken einen zweiten jüdischen Namen geben, um — nach einem Aberglauben — den Todesengel zu täuschen. Man nannte diese Zeremonie: „Schinuj haschem“ (Veränderung des Namens) und „Pidjan hanefesch“ (Auslösung der Seele). (Dr.Hamburger: Real-Encyklopädie, Bd. VI:, S. 837.)

In den meisten Fällen dürfte die Natur oder die Kunst der Ärzte den Erfolg der Namensveränderung bewirkt haben!

Namensveränderungen — anläßlich freudiger Ereignisse — kamen bereits bei den Erzvätern vor (I.Moses, K.17, V.5 und 15 und K.35, V.10: Avrom in Awrohom, Sora in Soroh, Jaakauw in Jisroel). In der Neuzeit ist es — besonders in regierenden Häusern — Sitte, den neugeborenen Kindern bei der Taufe 8 bis 10 Vornamen beizulegen und zwar die Vornamen der an- und abwesenden Taufpaten.

Um aus dieser Eitelkeit Nutzen zu ziehen, verfügte die (ungar.) Gemeinde Kreischa, daß vom 3. Namen angefangen für jeden weiteren Namen ein größerer Betrag zu Gunsten des Standesamtes entrichtet werde („Prager Tagblatt“ vom 15. März 1922).

Bei den Katholiken erhält der Firmling zu seinen bisherigen Vornamen auch den seines Paten (Gevatters).

Bei ungewöhnlichen Ereignissen, z.B. Erkrankung der höchsten Persönlichkeiten, der Gemeindegrößen, bei anhaltender Dürre oder wochenlangen Regengüssen pflegte man in der Synagoge, ebenfalls bei offener Bundeslade, die entsprechenden Kapitel aus den Psalmen mit tiefster Andacht zu verrichten.

Bei vorstehend genannten Ereignissen verrichten die Katholiken Bittgebete und veranstalten Bittgänge; erstere sind wie so vieles andere der jüdischen Mutterreligion entnommen; z.B. daß die Strenggläubigen anstatt der Msusa ein Kreuz und statt der Tefillin einen Rosenkranz oder einen kleinen Behälter mit Weihwasser (Weihbrunnkessel genannt) beim Eingang in das Wohnzimmer aufhängen. Viele lassen auch ober der Tür desselben Zimmers die Anfangsbuchstaben der drei Heiligen Caspar, Melichar und Baltazar am Vorabend des Dreikönigstages schreiben.

In den Dörfern werden die drei Buchstaben C. M. B. sogar ober den Stalltüren durch den Ortsgeistlichen in Begleitung des Mesners mit geweihter Kreide angeschrieben, damit die Tiere dadurch und durch die gleichzeitig stattfindende Räucherung sicher von Krankheiten verschont werden.

16. Kapitel

Am ersten Selichottage, d.i. am letzten bezw. vorletzten Sonntage vor dem Rauschhaschono und am Szchaurbris, d.i. Rüsttag des Neujahrs, ging man bereits um 3 Uhr morgens in die Schul, da man daselbst eine Unsumme von Slichots (Sündenvergebungsgebete) zu verrichten pflegte.

Jede Hausfrau setzte ihren Stolz darein, daß man zu dieser zeitlichen Stunde frisches Gebäck (Kolatschen und Gugelhupf) zum Kaffee genießen könne und stand deshalb knapp nach Mitternacht beim Backtrog und beim Herd.

In vielen Familien pflegten die schulpflichtigen Kinder am Rüstabend des Rauschhaschonoh nach Rückkunft ihrer Eltern aus der Synagoge denselben sehr sorgfältig — teils in deutscher und teils in jüdischer Kurrentschrift — geschriebene Neujahrswünsche zu überreichen; die der Schule bereits Entwachsenen beendigten ihre mündliche Gratulation mit den Worten: „le schonoh tauwoh tikossewu“, d.h. ein glückliches Jahr möge Euch beschieden sein.

Am ersten und zweiten Abend des Rauschhaschonoh hatten die Barches eine runde Form (statt der sonst länglichen), damit das beginnende religiöse Neujahr ein glückliches sei (nach dem Sprichwort: das Glück ist rund); das nach dem Segensspruch abgeschnittene Stückchen Barches tauchte man in Honig, damit das kommende Jahr ebenfalls ein süßes, das ist ein angenehmes sei. Das sonst an den Feiertagen übliche Nachmittagsschläfchen mußte ausfallen, damit man das Glück nicht verschlafe.

Am ersten jüdischen Neujahrstage ging man nach dem Mincha-Gottesdienste zu einem Flusse oder in dessen Ermangelung zu einem Teiche, verrichtete daselbst ein Gebet und warf einige Brotkrumen in das Wasser, mit dem stillen Wunsche, daß die Sünden dem Meere der Unendlichkeit zugeführt, bezw. seitens der Vorsehung der Vergessenheit anheimfallen möchten. Man nannte dies: Taschlich machen.

Einen Tag vor dem Rüsttag des Jaumkipur wurden für den Familienvater und für jeden mindestens 13 Jahre alten Knaben je ein Hahn — falls tunlich, weißer Farbe — nach dem Spruche des Jesaias „Obgleich eure Sünde blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden“, und für die Frau und jede mindestens 12 Jahre alte Tochter je eine Henne in Bereitschaft gehalten.

Jede dieser Personen bewegte den Hahn bezw. die Henne dreimal um ihr Haupt, wobei sie sprachen: „Dieser Hahn (bezw. diese Henne) vertrete meine Stelle, er (sie) komme an meinerstatt, er (sie) sei eine Versöhnung für mich: dieser Hahn (diese Henne) sei dem Tode geweiht und bringe mir und ganz Israel ein glückliches Leben.“ Hahn und Henne sollten gleichzeitig symbolisch als Sühne dienen für jenen Ziegenbock, welchen der Hohepriester am Jaumkipur zur Zeit des ersten und zweiten Tempels daselbst für Gott opferte, während der zweite Ziegenbock, auf welchen selben Tages das Los für den Asasel (nach der damaligen Volksvorstellung Name eines in der Wüste hausenden bösen Dämons) gefallen war, die Sünden der Gesamtheit in die Wüste getragen hatte (III.Moses, K.16, V.5 -10).

Die Schwingungen des Geflügels um die Köpfe nannte man „Kapores umschlagen“ (s.Anm.30).

Dieses Geflügel wurde teils lebend an Arme verschenkt, teils geschlachtet und bei den Mahlzeiten am Vorabend und nach Ausgang des Jaumkipur als Braten verzehrt.

In den modernen Gemeinden findet das Kaporesumschlagen nicht mehr statt; sogar Dr. Berliner, Professor am orthodoxen Seminar in Berlin, will das Kaporesumschlagen als „unzeitgemäß“ abgeschafft haben.

* * *

In der Zwischenzeit vom Jaumkipur bis Sukkot gingen wir bezw. die älteren Knaben „Hagebutten“ für die Sukko (d.i. Laubhütte) pflücken, entweder in der Richtung gegen Moschtienitz oder gegen Zelatowitz.

Die Sukko diente zur Erinnerung, daß die Juden nach dem Auszug aus Ägypten während des vierzigjährigen Aufenthaltes in der Wüste daselbst in Hütten wohnen mußten (III.Moses, K.23, V.42).

In den meisten jüdischen Häusern war in einem Zimmer anstatt eines stabilen Plafonds ein verschiebbares Dach. An Stelle der Bretter lagen Querlatten, welche am Vortag des Sukkot mit frischem Nadelholz belegt wurden; bei schönem Wetter schlug man das verschiebbare Dach zurück und konnte sich das Zimmer als Zelt vortäuschen. Wo kein Sukko-Zimmer vorhanden war, stellte man ein solches aus vier Bretterwänden provisorisch im Hofe auf.

Auf dem Wege nach Zelatowitz passierten wir mit einer gewissen Scheu den Fußsteg längs des Gartens des Bauern N., weil es hieß, daß in diesem Garten vor vielen hundert Jahren ein jüdischer Friedhof gewesen war.

Tatsächlich entdeckte die Gattin des Herrn Oberrabbiners Dr.Tauber in Prerau vor einiger Zeit in diesem Garten eine verfallene Scheune — vermutlich die ehemalige Zeremonienhalle — in deren Gebälk noch die Worte: „Schemah Jisroel“ sichtbar waren und im Garten selbst mehrere Gräber, in denen die Gebeine nach Osten gebettet lagen. Die Archive über diesen ehemaligen jüdischen Friedhof, der unstreitig in der Nähe des vor vielen hundert Jahren aufgelassenen jüdischen Ghettos - zwischen den Koslowitzer und Zelatowitzer Gassen — gelegen war, sind nicht mehr auffindbar.

Die für die monatelangen Ersparnisse gekauften Äpfel, Birnen und Pflaumen wurden teils in Schaumgold- und teils in Schaumsilberpapier eingewickelt; sie wurden an den Stengeln aufgehängt und nebst den auf Hanfzwirn aufgezogenen Hagebutten und Pfaffenhütchen neben Astern, Georginen und Kürbissen zur Ausschmückung der Sukko verwendet.

Jeder Knabe war glücklich, wenn seine Sukko als die schönste bezeichnet wurde.

An den sechs Sukkaustagen wurde beim Schachris das Hallelgebet (Lobgesang) mit dem Lulow (Feststrauß) und dem Esrog (offiziell Paradiesapfel genannt) in der Hand verrichtet.

Trotzdem für diesen keine Staatssteuer mehr entrichtet zu werden brauchte, war ein Esrog dennoch sehr teuer; Exemplare aus Korfu wurden teurer als Triestiner bezahlt.

Über Anregung eines Prager Handelsmannes sollten die Juden in Böhmen 26.660 fl. 40 kr., die von Mähren 13.320 fl. 20 kr. als Esrog-Steuer jährlich zahlen. Zufolge Vorstellung der Letzteren im Jahre 1745, daß die Steuer unerschwinglich sei, einesteils, weil sie kurz vorher 15.000 fl. zur Landesdefension gezahlt hatten und ferner, weil sie höchstens 150 bis 160 Esrogim jährlich benötigten, wurde die Steuer auf 4000 fl. jährlich ermäßigt und tatsächlich pro 1746 und 1747 in dieser Höhe bezahlt, so daß auf den Esrog cca. 25 fl. Steuer entfielen. Pro 1748 sind bis 26.November d.J. 3600 fl. eingegangen. Von dem Rest wurde abgesehen, da die Esrog-Steuer mit anderen jüdischen Steuern konvertiert wurde. Die mährische Judenschaft mußte jährlich bezahlen: 87.700 fl. Kontribution und 10.758 fl. zum Domestikalfond. Dem obgenannten Prager Handelsmann scheint die beanspruchte Remuneration von 2000 Dukaten kein Glück gebracht zu haben, denn im Jahre 1791 richtete er ein Majestätsgesuch um die zweiten Tausend Dukaten, ohne welche er „zum Bettelstab greifen“ müßte. (Willibald Müller: „Beiträge zur Geschichte der mährischen Judenschaft“)

Ich verschweige den Namen des Esrog-Steuer-Projektanten als eines Herostraten jüdischen Vermögens, damit er seitens der böhmischen und mährischen Judenschaft der wohlverdienten Vergessenheit anheimfalle.

Die Kultusgemeinde kaufte aus eigenen Mitteln jährlich je einen Esrog für den Rabbiner, den Chasan und den Schames; der Lulow hielt mehrere Jahre und nur die Hadassim (Myrthen) und die Weidenruten wurden erneuert.

Der Roschhakahal und mehrere andere wohlhabende Balbatim kauften sich den Esrog aus eigenen Mitteln und setzten einen gewissen Stolz darein, den Esrog in einem silbernen Etui auf Baumwolle gebettet in die Synagoge mitzunehmen und bei den täglichen Umzügen und zuletzt am Hoschanoh Rabbo (großer Bittgang), d.i.am 5. Halbfeiertage, bei den sieben Umzügen herumzutragen.

Nach dem siebenten Umzug wurden die aus 5 kleinen Zweigen bestehenden Bündel („Schaines“ genannt), welche die Knaben am vierten Halbfeiertage nachmittags an dem Ufer der Beczwa aus tadellosen Zweigen der Weidenbäume zusammengestellt hatten, an den Kanten der „Stot“ ein wenig abgeschlagen und teilweise entblättert, als Symbol, daß wir alles Gemeine und Unwürdige von uns abstreifen sollen. Übermäßiges Abschlagen war wegen chilul jomtauw nicht gestattet (Isr.Volkskalender von Brandeis, Prag, 1920/21).

Jede mehr als dreizehn bezw. zwölf Jahre alte Person, sowohl männlichen als weiblichen Geschlechtes sollte während der Sukkotfeiertage täglich vor dem Frühstück Lulow benschen. Man machte mit demselben sechs Schwingungen u.zw. je eine nach den vier Weltgegenden und eine nach oben und die letzte nach unten als Symbol, daß Gott der Schöpfer der Welt, des Himmels und der Erde ist.

Wer keinen eigenen Esrog und Lulow besaß, bediente sich des ihm vom Schames dargereichten Gemeinde-Lulows und -Esrogs.

Der Schames brachte dieselben auch ins Haus, besonders für die Frauen, wofür er ein Douceur erhielt.

Nach Sukkot war der Esrog seitens aller „interessanten Frauen“ ein sehr gesuchter Gegenstand, von welchem sie sich in Kindesnöten gewisse Erleichterungen versprachen; mit Vorliebe wurde der Stengel (Pittum) abgebissen.

* * *

Die auf dem Dorfe wohnenden Juden kauften mit den im nächsten Dorfe wohnenden Glaubensgenossen einen Esrog und Lulow auf gemeinschaftliche Kosten und schickten ihn täglich vormittags den im Nachbardorfe wohnenden Glaubensgenossen durch ihre Dienstboten zu.

Mit Bezug hierauf erzählt man sich folgende Episode: Ein Hausierer, welcher trotz des Halbfeiertages zeitlich morgens in das Dorf A. gegangen war — ohne vorher Lulow gebenscht zu haben -, begegnete auf dem Wege der Magd, welche gerade den Esrog und Lulow zum Randar in das Dorf B. trug.

Trotz ernstlichen Bittens wollte die Magd den Esrog und Lulow nicht einen Moment aus den Händen geben und so behalf er sich in seinem Frömmigkeitsdrang dadurch, daß er die Magd an den beiden Armen packte und sie samt Esrog und Lulow in vorgeschriebener Weise schüttelte.

In den Halbfeiertagen von Pessach und Sukkot wurden kurze Tagesreisen in die nächste Umgebung zu Verwandten und Bekannten mit den erwachsenen Kindern unternommen, weil sie ihnen als Belohnung ihres Fleißes und ihrer guten Aufführung versprochen worden waren.

Wir Kinder waren untröstlich, wenn der erste Tag der obgenannten zwei Feiertage auf einen Montag oder Dienstag fiel, weil dann nur der anschließende Mittwoch bezw. Donnerstag für die Besuchsreisen geeignet war.

In unserer Anspruchslosigkeit waren wir zufrieden, mit verwandten Marktfahrern auf dem hochbeladenen Wagen in die benachbarten Marktflecken fahren zu dürfen, wenn zufällig in den Halbfeiertagen daselbst Jahrmärkte abgehalten wurden.

Die Rückfahrt erfolgte in der Regel spät nachts und verlief in Angst und Bangen, weil Überfälle durch Betrunkene nicht zu den Seltenheiten gehörten.

Auch Verlobungen fanden in der Regel an den Halbfeiertagen statt. Nachdem sich Braut und Bräutigam das Jawort gegeben hatten, wurde eine große Kaffeeschale oder ein Teller zerbrochen. „Einen Scherben davon erhielt jeder bei der Verlobungstafel Anwesende; wenn ein junges Mädchen sieben Scherben von sieben Verlobungen besaß, so hoffte es, bald Braut zu werden.“ (Dr.Fürst)

17. Kapitel

Als Vorboten des Chanuka, das ist unser Licht- oder Weihefest, welches auf den 25. Tag des Monates Kislew fällt, stellten sich schon drei bis vier Wochen vorher regelmäßig jüdische Musikanten (Kle smorim) ein, meistens aus Böhmen gebürtig. Sie bildeten ein Quartett oder ein Quintett und produzierten sich in jedem jüdischen Hause mit Musikstücken alter und neuer Meister, welche sie ohne Noten vortrugen. Ein beliebtes Repertoirestück war die Melodie des Kolnidre von Sulzer.

Man freute sich auf die Produktion der Musiker, da man im Ghetto sehr selten Gelegenheit hatte, klassische Musik zu hören, und bezahlte sie reichlich.

Sehr häufig kam in der Chanukawoche auch ein Solist, welcher nur Zimbel (d.i. Hackbrett) spielte. Seine Spezialität war, auf den Saiten kleine, bemalte Holzfiguren aufzustellen, welche sich beim Spiel bewegten, d.i. auf und ab hüpften und da der Künstler zugleich Bauchredner war, so führte er kurze lustige Einakter auf, wofür er großen Beifall und viele Geldstücke einheimste.

Am Chanuka verfertigten die Knaben die „Stellein“, d.i. Drehnderl (Kreisel). Beim Einschneiden der vier Buchstaben in die Buchenholzform zerschnitt man sich häufig die Finger oder man verbrannte sie sich nachher beim Eingießen des flüssigen Bleies. Der Stellein diente zur Erinnerung an die Siege der Makkabäer (167-160 v.Chr.) über Antiochus Epiphanes; die vier Anfangsbuchstaben N. G. H. S. bedeuten: Nehs godaul hojoh schom, d.h. ein großes Wunder war es damals, daß eine kleine Schar einen solch überlegenen Feind besiegen konnte.

Das Bleigießen haben die Christen später auf die Sylvesternacht verlegt; aus den im Wasser sich bildenden phantastischen Figuren wollten heiratslustige Damen die Zukunft ergründen.

Da Chanuka meistens mit Weihnachten zusammenfiel, so pflegte uns die Großmutter am Heiligen Abend viele durch Aberglauben entstandene unheimliche Spukgeschichten zu erzählen; unter anderem, daß der Malach hamowes (Todesengel) herumgehe und diejenigen an den Füßen berühre, welche im nächsten Jahre sterben sollten, und deshalb mußten wir Kinder auch mit den Füßen à la turca (nach morgenländischer Sitte) auf den Ofenbänken sitzen.

Aberglauben ist eigentlich den Juden streng verboten, weil es im III.Moses, K.19, V.26 heißt: „Lau szenachschu“, d.i. die Israeliten sollen weder an Zauberkünste noch an Wahrsagerei glauben.

Jeder Kachelofen hatte damals an zwei bis drei Seiten gemauerte Bänke, wie solche noch gegenwärtig hie und da in älteren Bauernhöfen vorkommen.

An eine Ofenseite stieß der Backofen, dessen Wölbung, mit Ziegeln geebnet, ein im Winter sehr umworbenes, warmes Lager darbot, besonders wenn wir Knaben vom Eislaufen durchfroren nach Hause kamen.

Nach dem Anzünden der Chanukalichter, damals anstatt der teueren Wachskerzen meistens in der achtzackigen Messingmenora, das ist eine Lampe, in deren Schnäbeln in Öl getauchte Dochte brannten, und nach Absingen des Liedes: „Moaus zuhr jeschuossi“, d.i. Gott ist mein Schutz und meine Wehr, spielten die Knaben „Hammer und Glocke“, da während der Chanuka-Abende der häusliche Unterricht ausfiel.

Am ersten Weihnachtstage waren Kipfel nicht erhältlich und da hatte man in den jüdischen Familien als Frühstücks-Spezialität „Pönitz“, d.i. gebähtes Brot, auf den beiden Seiten mit Knoblauch und Butter bestrichen.

* * *

Am fünfzehnten Tage des nächstkommenden Monates Schebat war das sogen. Baumfest.

Nach einer alten Bauernregel sollen an diesem Tage die Bäume aus ihrem Winterschlafe erwachen und soll sich ihre Keimkraft wieder erneuern.

Die frommen Juden verlegten die Feier dieses Naturereignisses auf den dem 15. Schebat folgenden Sabbat; meistens pflegt dies Sabbat Schirah zu sein.

Ein gelehrter, frommer Mann — in der Regel der Dajan, d.i. der Rabbinerstellvertreter — vollendete an diesem Tage irgendeinen Talmud-Traktat und lud zum Vortrag des letzten Abschnittes Bekannte und Verwandte ein.

Er bewirtete sie nach einem Minhag (Gepflogenheit) mit fünfzehn auserlesenen Baumfrüchten verschiedener Art, entsprechend der Zahl Chamischoh ossar, d.i. 15. Schebat 1).

* * *

Purim (jüdischer Fasching) und Schuschan-Purim (so heißt der darauffolgende Tag) zählte man zu den staatlich anerkannten Gerichtsferien (Scari), d.s. Halbfeiertage; am Purim vormittags machte man sich gegenseitig Geschenke mit Wein, Backwerk, Zitronen oder Pomeranzen, Mischlauch Monaus genannt (Megilla Esther K.9, V.19), und bedachte die Armen mit Geldspenden.

Am Purim Nachmittag und Abend war beim Rabbiner, beim Roschhakahal, bei den Gabaim und bei den Eltern wegen ihrer sozialen Stellung offene Tafel für jedermann.

Mit Eintritt der Dunkelheit stellten sich einzelne Masken oder auch Maskengruppen ein. Eine gelungene Maske ist mir aus damaliger Zeit erinnerlich:

Ein als Polizeikommissär verkleideter junger Mann aus armer Familie prüfte auf einer kleinen Schnellwaage, Inzer oder Linzer genannt, die besten Speisen, besonders die Purimspezialität: längliche Mohnbeugel, Makewnikel genannt (Mohn heißt in tschechischer Sprache mak), ob sie das polizeilich vorgeschriebene Gewicht hätten, und da dies zufolge seiner Infallibilität nicht der Fall war, so wanderte ein großer Teil der aufgestellten Delikatessen in die Butte des ihn als Maske begleitenden Wachmannes, dem man wegen seines martialischen Exterieurs auch nicht zu opponieren wagte.

In den wohlhabenden Familien bildete der Fladen die Pièce de resistance des Backwerkes. Was davon am Purim übrig blieb, wurde an den darauffolgenden 4 Sabbaten fast gleichteilig verspeist; das größte Stück wurde jedoch für den Sabbat hagodaul reserviert.

Ein jüdisches Sprichwort lautet: „Purim ist alles erlaubt!“

Dies machte sich manche witzige oder humoristische Maske zunutze, indem sie einige Persönlichkeiten persiflierte, welche durch irgendwelche Besonderheiten auffielen oder sich im Laufe des Jahres Verstöße in Kehilla-Angelegenheiten zuschulden kommen ließen.

Diese machten gute Miene zum bösen Spiel, denn der Refrain des vorstehenden Sprichwortes lautete: „Nach Purim weiß man doch, wer ein Narr ist.“

* * *

Vom ersten Tage des Monates Nissan bis einschließlich den zweiten Ijar entfiel an den Werktagen beim Morgen- und Abendgebet das „Tachnun“; wir Kinder freuten uns, daß bald Pessach sein werde, da es während dessen achttägiger Dauer zum Frühstück Topfenpfannkuchen (eine jüdische Mehlspeis-Spezialität) und in der kräftigen Mittagssuppe Knöderln aus geriebenem Mazzes gab.

Einen Tag vor Eintritt des Pessach begannen die Frauen mit dem Wegräumen des im Gebrauch befindlichen Eßgeschirrs, weil man während der Pessachtage ein anderes benutzen mußte, und da nicht jedermann in der Lage war, neues anzuschaffen - man hatte ja ohnehin Geschirr für Fleisch und Milchspeisen -, so wurde vieles vor Erew Pessach „gekaschert“, d.h. im kochenden Wasser einige Stunden liegengelassen; ebenso wurden etwaige Vorräte an Brot und Mehl aus den Wohnräumen geschafft.

Am Abend dieses Vortages wurde jeder Winkel vom pater familias nach Brotkrumen durchstöbert; die etwa vorgefundenen wurden auf einem hölzernen Schüsselchen gesammelt, am nächsten Vormittag durch den Liberer abgeholt und sodann gegen 10 Uhr im Backofen des jüdischen Bäckers verbrannt, da von dieser Stunde angefangen während der folgenden acht Tage Brot und sonstige mittels Hefe hergestellte Speisen und Getränke nicht mehr genossen werden durften.

Mehl- und Viktualienhändler verkauften auf Grund eines in den alten Hagadas vorgedruckten Entwurfes (schtar mchiro) zum Schein ihre Vorräte an einen ihrer christlichen Bediensteten und enthielten sich während der acht Pessachtage jeder geschäftlichen Mittätigkeit bezw. Ingerenz.

Bis zum dreizehnten Lebensjahr des erstgeborenen Sohnes fastete dessen Vater stets am Erew Pessach vormittags; nach erreichtem 13. Jahre der betreffende Sohn selbst, zum Danke dafür, daß zur Zeit des Auszuges der Juden aus Ägypten unter den Pharaonen sämtliche jüdische Erstgeborene vom Tode verschont blieben (II.Moses, K.12, V.12-13).

Man wurde jedoch vom Fasten befreit, wenn man nach dem Schachritgebet anwesend war beim Vorlesen des Schlußkapitels aus einem Talmudtraktat, welchen einer der frommen Gelehrten im Laufe des Jahres von A bis Z studiert und nach dem Schachritgebete beendet hatte.

Man nannte diese Zeremonie, welche mit einem kleinen Imbiß verbunden war, „Szijum“ (Beendigungsmahl).

Außer den obligaten Fasten

1. an den beiden Vormittagen des Rauschhaschono bis nach dem Schaufarblasen;

2. des ganztägigen Gedalia-Fastens, d.i.am dritten Tischri zur Erinnerung an die nach der Zerstörung Jerusalems stattgefundene Ermordung des Statthalters Gedalia;

3. des fast 24 1/2 stündigen Fastens am Jaumkipur und

4. des fast 26stündigen Fastens am neunten Ab (Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem) — gab es noch ganz- und halbtägige Fasttage:

5. am zehnten Tewes (Beginn der Belagerung Jerusalems);

6., 7., 8. am Scheni, Chamischi, Scheni (22., 25., 27. Cheschwan);

9. am Rüsttag des Purim (13.Adar), Fasten Esther genannt;

10., 11., 12. am Scheni, Chamischi, Scheni (5., 8., 10.Ijar); und

13. am 17. Thamus, d.i.der Tag der ersten Bresche in den Mauern Jerusalems.

Außerordentliche Fasten traten ein für denjenigen, welcher die Tefillin fallen ließ und für die ganze Gemeinde, wenn ein Sefer Thora in der Synagoge zu Boden fiel 1).

Wenn die im Judentum verbreitete Anschauung richtig ist, daß zur Erholung nach einem Fasttage 40 Tage erforderlich seien 2), so ist es ein Wunder, daß die Juden, trotz ihrer körperlichen Schwäche den im Laufe der Jahrhunderte oft erneuerten und noch jetzt wiederkehrenden körperlichen und moralischen Martern widerstehen konnten und noch widerstehen!

18. Kapitel

„Wer vieles bringt,
wird jedem etwas bringen“
(Goethe)

Am Rüstabend des ersten Pessachtages und am nächsten Abend wurde in jedem Hause nach Rückkehr des Hausvaters aus der Synagoge der „Seder“ (s.Anm.31) gegeben, das heißt, es wurde aus der „Hagadah“ (d.i. ein liturgisches Büchlein, enthaltend die Beschreibung der Leidensgeschichte der alten Israeliten und deren wunderbare Befreiung aus Ägypten unter den Pharaonen) vorgelesen und beim Abendbrot wurden die Mazzes (die ungesäuerten Brote) verspeist.

Von den auf der Festschüssel liegenden, durch je eine Serviette voneinander getrennten Mazzes nannte man die erste Priestermazzo, die zweite Leviten- und die dritte Israelitenmazzo. Von der ersten und zweiten Mazzo brach der Hausvater je ein Stück ab, verspeiste es während des bezüglichen Segensspruches, ferner nahm er vor Beginn des Abendessens von der dritten Mazzo für sich und die anwesenden Hausgenossen je ein Stückchen, belegte es mit Petersilie und dem bitteren Kraut (Kren); dies wurde in wehmütigem Gedenken an die seinerzeitige bittere (traurige) Zeit der Knechtschaft und Fronarbeit in Ägypten gegessen. Ein kleiner Teil, welcher von der mittleren (Leviten) Mazzo zurückgeblieben war, wurde beim Nachtisch (Afikaumon, verstümmelt von dem griechischen Worte Epikomizoh) verspeist und der größere Teil gleichsam als Amulette bis zum nächstjährigen Pessachfeste aufbewahrt. Da man wußte, daß der Hausvater dieses Stück Mazzo unbedingt für den letzteren Zweck benötigen werde, so bemühte sich einer der anwesenden Knaben, es sich in unauffälliger Weise anzueignen; wenn ihm dies gelungen war, so erfolgte die Rückgabe nur gegen das Versprechen einer Entschädigung, z.B. eines neuen Kleidungsstückes oder schönen Buches usw.

Bei besonders frommen Juden pflegte der Familienvater zur Erhöhung der feierlichen Stimmung beim Sedergeben den Khittel anzulegen und nach orientalischer Sitte auf dem erhöhten „Hessebett“, d.i.dem gepolsterten Lehnsessel zu sitzen.

Manche hatten neben sich eine mit Wasser gefüllte kleine Wanne oder Schüssel zur Erinnerung an die seinerzeitige Durchschreitung des Schilfmeeres.

Beim Seder trank man an gewissen, in der Hagada näher bezeichneten Stellen je einen kleinen Becher Wein, zusammen vier Becher; für Elia hanowi (Prophet Elia) stand ebenfalls ein Glas Wein auf dem Tische bereit und die Zimmertüre blieb für seine etwaige Ankunft offen.

Die frommen Juden glaubten nämlich, daß dieser Prophet auch nach seinem Verscheiden geistig bei dem Volke Israel verweile und den religiösen Versammlungen beiwohne (kathol.Pfarrer Dr.Frank: „Der Ritualmord“, S. 103).

Viele ängstliche Juden, insbesondere die auf dem Dorfe wohnenden, feierten den Seder bei offenen, unversperrten Türen und unverhüllten Fenstern und tranken dabei nur weißen Wein, denn im roten Wein könnte man „Blut“ vermuten, welches die Juden nach der Einbildung beschränkter oder irregeleiteter Andersgläubiger angeblich zu dem Mazzesteig oder zu religiösen Zeremonien benötigen sollten. Roten Wein tranken manche fromme Juden zur Erinnerung, daß einst der König Pharao im israelitischen Kinderblute badete, um sich von seinem Aussatze zu befreien.

* * *

Den meisten Menschen mit gesundem, nüchternem Verstande erscheint es als psychologisches Rätsel, daß man den Juden einen Blutbedarf bezw. einen Ritualmord imputieren konnte und zeitweilig noch imputiert (s.Anm.32).

Trotz der allbekannten Religiosität der Juden wagen es noch in der Jetztzeit einige Christen, die Blutbeschuldigungen gegen die Juden zu erheben! Und zwar Christen, deren Apostel bei der ersten Kirchenversammlung im Jahre 52 n.Chr. den Beschluß faßten, daß Heiden nur dann Christen werden könnten, wenn sie sich WIE DIE JUDEN verpflichten, sich von erstickten Tieren und Blut zu enthalten. Und dies sind Christen, deren Vorfahren bis in das zweite Jahrhundert auch unter der Anklage der Blutschuld, des Schlachtens von Kindern und des Genusses von deren Fleisch und Blut bei der Feier ihrer gottesdienstlichen Geheimnisse gestanden sind, besonders unter dem römischen Kaiser Hadrian im Jahr 117 bis 138, unter Pius Antonius 138 bis 161 und unter Marcus Aurelius und Lucius im Jahre 161 bis 188 (kath.Pfarrer Frank, S.25 und 29).

Es gibt nur eine Erklärung für die erst seit den Kreuzzügen im elften und zwölften Jahrhundert eingetretene Erhebung der Blutanklage gegen die Juden, daß damals und auch in der Gegenwart ausschließlich Dummheit, Bosheit, Haß und Neid, Verfolgungswut und Habsucht, gewinnsüchtige oder politische Motive die Ursachen und die verwerflichen Gründe für die Blutbeschuldigung waren und sind (s.Anm.33, 34 und 35).

Durch eine Ironie des Schicksals wurde trotz des Ukases Kaiser Alexanders I. vom 6.März 1817 gegen den Juden Beilis im Jahre 1912 die Ritualmordanklage erhoben. Anläßlich dieses Prozesses sagte dessen Verteidiger, Rechtsanwalt Bobritschew-Puschkin: „Ich bin zwar Antisemit, aber an das Ritualmordmärchen glaube ich nicht. Ich habe die Verteidigung nur zu dem Zwecke übernommen, um dieses alberne Märchen ein für allemal zu widerlegen.“ (Abendblatt der „Neuen Freien Presse“ vom 6.April 1912.)

Der russische Erzbischof Antonius vom Wolhynien sagte: „Im Namen der Gerechtigkeit erkläre ich, daß die Juden kein Menschenblut zu religiösen Zwecken gebrauchen. Die Verleumder verstehen nicht, was in der Heiligen Schrift steht. Die Behauptung, es bestehe unter den Juden eine Sekte, welche Blut gebraucht, ist unwahr. Auch der Knabenmord in Kiew ist nichts als ein gemeiner Mord.“ (Abendblatt der „Neuen Freien Presse“ vom 16.April 1913.)

In den englischen Blättern erschien eine imposante Protestkundgebung gegen die fortgesetzte Ritualmordagitation in Kiew. Die Protestnote ist von mehr als 200 Personen unterzeichnet und enthält die Namen der hervorragendsten Theologen aller christlichen Bekenntnisse, von Staatsmännern und Gelehrten, Professoren aller Fakultäten in Oxford und Cambridge, Künstlern und Schriftstellern usw. („Österr.Wochenschrift“ vom 10.Mai 1912).

Auch die Kultusgemeinde in Wien veranstaltete in Anwesenheit zahlreicher Rabbiner der Monarchie Protestversammlungen gegen die Ritualmordbeschuldigungen des Hilsner und Beilis.

Lord Rothschild, New Court in London, hat unwillkürlich in seinem offenen Briefe an den päpstlichen Delegaten, Kardinal Merry del Val daselbst, in Angelegenheit des Beilis einen großen Teil meiner vorstehend gegen den Ritualmord angeführten Gründe zitiert; die zustimmende Antwort des Kardinals ist nicht ohne Einfluß auf den günstigen Ausfall des Prozesses geblieben.

Tatsächlich wurde Beilis — verteidigt durch den berühmten Advokaten Grusenberg — am 8.November 1913 von der Volksjury trotz aller Regierungsmachinationen freigesprochen. Er übersiedelte nach Palästina, um dortselbst als Landwirt zu leben.

19. Kapitel

Beim Maariwgebete zwischen dem ersten und zweiten Pessachtage begann man die „Sefira“ zu zählen. Der Rabbiner sagte: „Hajom jaum echod lo omer“, d.i. heute ist der erste Tag des Omerzählens (II.Mos. K.23, V.16) in Erinnerung an die seinerzeitige Darbringung der Ähren von der ersten reifenden Frucht (Korn und Gerste) in Palästina.

Der achtzehnte Tag im Monate Ijar wurde lag beomer (33. Omertag) bezw. Schülerfest genannt, zur Erinnerung an das an diesem Tage im Jahre 168 d.ggw.Z. eingetretene Erlöschen der lange wütenden Epidemie, welcher viele Schüler des Rabbi Akiba zum Opfer gefallen waren.

Selbstverständlich war der Nachmittag schulfrei und wir feierten unsere „Majales“. So nannte man nachher die Ausflüge, welche die Gymnasiasten im Monate Mai unternahmen.

Längere Ferien — wie solche gegenwärtig selbst für Volksschulen mit mindestens sechswöchentlicher Dauer vorgeschrieben sind — hatten damals die Chederschüler nicht; sie mußten sich mit der schulfreien Zeit an den Nachmittagen des Rauschchaudesch und den Halbfeiertagen begnügen.

* * *

Am letzten Pessachtage nach Mincha trugen wir eine große, mit Stroh und Sägespänen ausgestopfte Puppe, welche in defekte, von uns freiwillig beigestellte Kleidungsstücke gesteckt war, im Ghetto herum und warfen sie nach dem Maariwgebete zerfetzt und zerrissen in einen hinter der Mikwo befindlichen Wassertümpel oder verbrannten sie unter dem Gejohle der großen und kleinen Kinder 1).

Es sollte dadurch unsere große Freude ausgedrückt werden, daß die strenge Observanz betreffs der ungesäuerten Pessachspeisen nun zu Ende gehe und daß man zur Abendmahlzeit endlich „Brot“ werde essen dürfen.

* * *

Die Zeit vom ersten Pessachtage (nach dem Omerzählen) bis Erew Schowuaus nannte man „Sefira“; auch zur Erinnerung an die Martyrien, welche die Juden nach der Zerstörung des Tempels und während des ersten Kreuzzuges im Jahr 1096 erlitten hatten.

Während dieser mehr als sechswöchigen Trauerzeit waren mit Ausnahme des Lagbeomer alle Festlichkeiten und Unterhaltungen untersagt.

Diese Trauerwochen endeten am ersten Neumondstage des Monates Siwan. Dessen 3., 4. und 5.Tag nannte man „Schlausche jme hagbole“ (3 Vorbereitungstage), welche der Jude unter Enthaltung von jedem sinnlichen Genuß zur Seelenstimmung für die am ersten Schowuaustage beim Mussaf stattfindende Verlesung einiger Kapitel aus den seinerzeit unter Moses den Israeliten am Berge Sinai erteilten Gesetzen verwenden sollte.

Von diesen wurde das 20.Kapitel des II.Buches Moses’, enthaltend die zehn Gebote, mit besonders feierlicher Melodie durch den Chasan vorgelesen und vom Publikum stehend angehört.

Am Rüsttage der Schowuaus wurde auch der Almemor mit Birkenzweigen geschmückt und zur Erhöhung der Feststimmung stellte man Birkenzweige in die vier Wohnzimmerecken und Pfingstrosen auf den breiten Wäschekasten (Commode genannt), welcher das Paradestück der Möbel bildete.

Mit dem zweiten Schowuaustage, an welchem nach dem Schachrit das idyllische Buch Ruth gelesen wurde, endete die nicht geringe Festesreihe der Juden. Sie konnten nun die Sommermonate ungehindert durch religiöse Erschwernisse der intensiven geschäftlichen Tätigkeit und der Erholung widmen, bis zu dem vorher geschilderten Tischo bé ab.

Am letzten bezw. vorletzten Tag der Hauptfeiertage fand vor Beendigung des Mussaf-Schemone-Esre-Gebetes das sogenannte Duchenen (Zeitwort von Duchan, d.i. Tribüne, Almemor) statt.

Schon zur Zeit der Stiftshütte teilten sich die Juden in drei Kasten; die erste und vornehmste waren die Kohanim (Priester), d.s. die Nachkommen Ahrons; die nächste bestand aus den Leviten (d.s. die Abkömmlinge aus dem Stamme Levi) und den Überrest bildete die dritte Kaste, „Israeliten“ genannt, d.s. die misera contribuens plebs (s.Anm.36).

Vor dem Duchenen mußten sich die Kohanim die Hände waschen; dies geschah in der Weise, daß die älteren Leviten im Vorraum der Synagoge ein daselbst aufbewahrtes, längliches, kupfernes Becken an den Henkeln hielten; der angesehenste oder älteste Levite goß aus einer dazu gehörigen Kanne den Kohanim Wasser auf die Hände, welche durch die jüngeren Leviten mit den in Bereitschaft gehaltenen Handtüchern abgetrocknet wurden.

Nachdem dies geschehen war, begaben sich die Priester auf den Duchan (Almemor), umhüllten mit dem Tallis das Haupt und die Hände, deren Daumen sich berühren mußten, und begleiteten die vom Chasan laut gesprochenen Segenssprüche mit einer monotonen, summenden, jedoch eindrucksvollen Melodie. Sie sollten gleichsam durch ihren heiligen Gesang den Priesterberuf ihrer Ur-Urahnen nicht in Vergessenheit geraten lassen.

In den orthodoxen Gemeinden wurde nach dem Schlagworte: Wjischmerecho (Gott behüte Dich) der Singsang der Priester sehr lange ausgedehnt, weil viele Andächtige, welche einen beängstigenden Traum hatten, inzwischen ein Gebet um glücklichen Traumausfall verrichteten.

Dieser Aberglaube war im Morgenlande — namentlich bei den Ägyptern und Persern — vorherrschend.

Während des Duchenens durfte niemand auf die Priester sehen, weil angeblich die Schechina, d.i. die Herrlichkeit Gottes, auf ihnen ruhe und damit kein Zuwiderhandeln stattfinde, so glaubten viele, daß der Unfolgsame erblinden werde.

Nach Maimonides ist das Anschauen der Priester beim Duchenen deshalb verboten gewesen, weil durch die faszinierenden Blicke des Publikums die gegenseitige Andacht gestört würde (Dr.Hamb. Real-Encyklopädie II., S.237).

Mit letzterer Erklärung würde es auch übereinstimmen, daß der katholische Priester beim Gottesdienst oder auf dem Wege zur Versehung ebenfalls vom Sanktissimum nicht weggehen darf.

In der Jetztzeit findet in den freisinnigen Gemeinden das Duchenen nicht mehr durch die Kohanim statt, sondern der Chasan rezitiert singend die Schlagworte jedes einzelnen Satzes des Priestergebetes und das Publikum responsiert.

* * *

Zur Charakteristik der damaligen bescheidenen Lebensweise der Prerauer Juden möchte ich noch erwähnen, daß es während der beschriebenen Periode weder in der elterlichen Wohnung, noch in den anderen Prerauer jüdischen Häusern gemalte oder tapezierte Zimmer gab.

Man weißigte zwei oder drei mal des Jahres (in der Regel vor Pessach und Rauschhaschonoh oder wenn man einen Besuch erwartete) sämtliche Wohnräume und nahm zu dieser Arbeit nicht einen Maurer sondern die Schabbesgojte, besonders wenn sie ohne Streifen litschenen (weißigen) konnte.

* * *

Ich glaube, im Vorstehenden sämtliche nicht nur in Prerau, sondern in den meisten Kehillas der ehemaligen Monarchie in der Periode 1838-48 bestandenen Gebräuche so ziemlich der Reihenfolge nach geschildert zu haben.


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