Ludmilla Focke - Kinder der Kreta


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„Geh’n ma baden?“, fragen die Blodiceks und wir beschließen am Nachmittag zum Kanters ‒ dem Wiener Neustädter Kanal ‒ zu gehen und dort in seinen kühlen Fluten zu baden. Der besagte Kanters zieht sich entlang des Ostbahngeleises quer durch Simmering und führt stellenweise sogar Wasser. An einer Stelle ist er wirklich tief und daher für Kinder und Nichtschwimmer gefährlich. Die beliebteste Stelle ist natürlich die, wo uns das Wasser nicht ganz bis zu den Knien reicht, wenn man in diesem Gemisch von alten Blechhäfen, Steinen und Glasscherben von Wasser überhaupt reden kann.

Nach dem Essen ziehen wir also los, die drei Blodiceks, die Fockischen und noch ein paar Kinder aus der näheren Umgebung. Es ist glühend heiß und der Spritzwagen fährt wie bestellt die Geiselbergstraße hinunter und hat gerade frisch Wasser getankt. Mit Halloh rennen wir alle hinten nach und lassen uns bis zu den Kien hinauf begeistert anspritzen. Hie und da hängt sich einer an, was die anderen Kinder oberhalb des Geländers dem Wagenlenker lauthals zurufen. Plötzlich schießt ein Riesenstrahl Wasser in hohem Bogen aus dem Wagen heraus und wir sind alle bis auf die Haut naß und ergreifen laut schreiend die Flucht. Oben lachen sie schadenfroh, denn wir sehen aus wie die gebadeten Mäuse. Das Kleid pickt an uns, die Haare sind triefnaß. Der „Strafhölzl“ friert sehr leicht und scheppert mit den Zähnen, was die anderen zum Lachen bringt. Aber er hat es nicht gern, wenn man über ihn lacht und rennt jedem wütend nach. Dadurch wird ihm auch bald wieder warm und die Gefahr einer Erkältung ist gebannt. Du lieber Gott, wie oft hätte uns Kinder damals irgendeine Krankheit befallen müssen, so wild und unbetreut wie wir aufgewachsen sind. Wie oft sind wir mit zerschundenen Beinen oder sonstigen Blessuren heimgekommen, wer hat das schon beachtet oder gar „verarztet“. Und was haben wir nicht alles an verdorbenem oder unreifem Obst in uns hineingegessen.

Da drüben fährt der Greißler Schwetz (ein griesgrämiger und ungesund ausschauender Mann), mit seinem Wagen. „Anhängen“ lautet die Parole vom Loisl, und fünf oder sechs von uns rennen hinter dem Wagen her, um ihn noch einzuholen. Leider bin ich eine der ersten dran und somit dem Zugriff des Kutschers am nächsten. Eine Weile geht alles gut, doch dann hat der Herr Schwetz erfaßt, daß da hinten eine Traube von unerwünschten Mitfahrern hängt und er langt mit der Peitsche ‒ ohne Warnung, was wir ihm sehr übelgenommen haben ‒ nach hinten und erwischt mich, da ich durch die Anderen an den Wagen gepreßt werde und nicht abspringen kann, ganz schön auf dem Unterarm. Noch heute trage ich das Monogramm des Herrn Schwetz zum Andenken, damals hat es ganz schön geeitert. Doch im Moment verbeiß’ ich tapfer den Schmerz und tue ziemlich ungerührt.

Wir langen auch endlich „im Bad“ an und gehen sofort ins Wasser. Probleme mit dem Badekostüm haben wir keine. Jeder behält das Hemd an. Der Eintritt ist „frei“. Wir mischen uns gleich unter die zahlreich vorhandenen Badenden und tauchen erst einmal bis zum Hals unter, was gar nicht so einfach ist. Das „Wasser“ ist trüb, der Boden weich und „es quillt einem zwischen Zehen durch“. Eine hochwillkommene Abwechslung dabei ist das Vorbeifahren eines Eisenbahnzuges, oberhalb des Bahndammes. Gerade vor uns bleibt der Zug stehen, er hat hier Station. Die Leute schauen mit Staunen auf das Treiben unter ihnen, und wir winken und schreien und freuen uns des Lebens. Auf der anderen Seite des Viadukts ‒ durch den der 6er-Wagen fährt ‒ ist der Kanal plötzlich eine Strecke lang sehr tief. Dort sind die „Schwimmer“ und vor allem Erwachsene. Wir beschließen, weil uns schon fad ist, eine bissl hinüberzuschauen. Ha, das wäre was, so schwimmen zu können, wie die hier! Wir können alle nur „Hundskrabbeln“, eine kühne Mischung von Wassertreten und Spritzen. Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich schwimmen die Mizzi und die Leni ‒ wie immer Hand in Hand ‒ im Wasser. Ihre Kleider bauschen sich um ihre mageren Beine, der Blick ist starr, aber kein Ton kommt aus ihrem Mund. Sie sehen aus wie zwei Wasserrosen bei Mondschein, bleich und hellschimmernd. Irgendwer schreit plötzlich um Hilfe und die zwei werden „an Land“ gebracht. Beim Heimgehen lachen wir schon wieder alle über die Abenteuer dieses Badenachmittags.

***

Einer der wenigen Vorteile im Gaswerk ist das wesentlich verbilligte Brennmaterial, das die Angestellten erhalten. Die Einlagerung erfolgt im Sommer und so wird auch heuer ein Handwagerl ausgeborgt und die „Kokstour“ ‒ ein berüchtigter Sommerschreck für die jeweiligen Opfer ‒ gestartet. Als die Älteste der „letzten Drei“ erhalte ich Papiere und Oberaufsicht über die zwei Anderen und wir ziehen los. Der Loisi ist der Fuhrwerker, die Lintschi der Steuermann. Der Weg zum Gaswerk ist lang und teilweise sehr steil, das Pflaster holprig und die Sonne heiß. Mit dem leeren Wagerl den steilen Geiselberg erst einmal hinunter und dann hinauf zu kutschieren geht noch an, aber auf dem Heimweg liegen immerhin acht schwere Kokssäcke drauf, und der Strick über der Achsel schneidet ganz schön ins Fleisch. Immer einer übernimmt streckenweise die Führung, und die beiden Anderen schieben hinten mehr oder minder tüchtig an. Die Lintschi ist ein Arbeitspferd und robotet ehrlich und willig, der Loisi aber ist ein Drückeberger und Schwindler, der so tut als ob, und uns mit allerhand Schmäh drankriegt. Meistens bleibt er hinten und tut sich nicht weh.

Plötzlich hat er eine Idee und die setzt er auch sofort ‒ trotz meines empörten Protestes ‒ in die Wirklichkeit um. Vor uns fährt schon die längste Zeit ein blauer Leichen-Galawagen, mit zwei munteren Pferden bespannt und leer, offensichtlich auf der Rückfahrt vom Zentralfriedhof. Wir aber sind abgerackert und müde und verstaubt. Flink koppelt der Loisi das Kokswagerl an den Leichenwagen an und unter den teils verwunderten, teils empörten Blicken der Vorübergehenden fährt das seltsame Gespann, von seinem erfinderischen Kutscher dirigiert, die lange Geiselbergstraße hinauf. Die Pferde mögen sich nicht wenig gewundert haben, wieso ihr Gefährt plötzlich wieder an Gewicht zugenommen hat. Die Lintschi und ich gehen zitternd vor Angst, Scham und Hilflosigkeit in gebührendem Abstand hinten nach, immer in Erwartung, daß ein aufgebrachter Passant oder ein auftauchender Wachmann die makabre Fahrt vorzeitig beenden könnte. Der Loisi aber ist quietschvergnügt und ohne jede Hemmung. Kurz vor unserem Ziel halftert er seelenruhig das Kokswagerl ab und wir landen endlich vor unserem Haus.

***

„Geh und hol die Anderen“, sagt die Mutter zu mir, und ich fange an, die Gegend abzuklappern. Der Hansi ist bei seinem Freund im 1er Haus, das weiß ich. Aber wo sind die Lintschi und der Loisi? Es ist ein schöner, sonniger, warmer Sonntag und die Hofherrwiese dementsprechend sehr besucht. Aus allen Fenstern dringt Leben und Behagen, es riecht nach Schnitzeln und Schweinsbraten, und die Kinder sind mit den Bierkrügeln unterwegs. Aus einem Grammophontrichter schnarrt ein Tenor ein Couplet, daneben produziert sich ein Kanari. Aus den Rauchfängen steigt blauer Rauch in die Luft, in manchem Fenster liegt der Hausvater mit eingebundenem Schnurrbart und einem Zigarrl im Mund und wartet auf’s Essen und ist voller Wohlwollen gegen sich und seine Umgebung. Ich kann den Loisi nirgends sehen, auch die Lintschi nicht, die sonst immer irgendwo durch die Gassen jagt, am Schnürl ein Blechreindl hinter sich herziehend, sich selbst als Pferd kleine, aufmunternde Peitschenhiebe versetzend. Wo treiben sich die beiden um diese Zeit herum? Aha, da ist ein größerer Auflauf, da ist der Loisi sicher dabei, wie ich ihn kenne.

„Treten sie näher, meine Herrschaften, einmalige Sensationen, die Kämpfe wilder Indianerstämme erleben sie hier. Naturkatastrophen, Bilder aus aller Welt, treten sie näher, nur hier“. Eintritt 10 Groschen. Zur Kassa, meine Damen und Herren, zur

Kassa!.

Ich trete näher und sehe den Loisi mit einem Zeigestab in der Hand, vor ihm auf einem Blechhäfen sitzt die Lintschi, entblößten Hauptes, und ringsherum, in erwartungsvollem Schweigen, ein bereits stattliches Publikum, teils auf dem Boden hockend, teils stehend. Zwei Absammler mit dem Kappl in der Hand machen die Runde und keiner darf stehenbleiben, der nicht bezahlt, denn für den Nachmittag ist noch kein Kinogeld da und ein bissl was zum Naschen braucht der Mensch ja auch. Die Lintschi ist mit kleiner Beteiligung unter Vertrag genommen, ebenso die beiden „Billeteure“. Der Respekt gegen den Boss ist zu groß, als daß einer auf eigene Faust arbeiten würde, das kann er nicht riskieren.

Und nun erlebt eine staunende Umwelt die tollsten Dinge, atemlos hängen die Augen und Ohren der umstehenden Kinder an dem Mund des Redners und verfolgen den Weg der Abenteuer durch tiefe Schluchten und reißende Ströme, plastisch sichtbar auf der braunglänzenden Kopfhaut der Lintschi, die sonst, wie auch die meine und die vom Loisi, mit einem Samthauberl bedeckt ist. Vor einigen Wochen hat man uns im Lainzer Spital unsere Haarpracht „ausgezupft“ da wir uns eins vom andern eine hartnäckige Kopfflechte ergattert hatten und nun, nach einer mehrmaligen Jod- und Zinksalbenbehandung schimmern unsere Häupter wie blankpolierte Billardkugeln. Anfangs sind uns die Kinder auf der Straße nachgelaufen, bis meine Mutter auf die Idee kam, uns besagte Hauberln zu nähen.

Die Lintschi sitzt da, mit einem teilnahmslosen Gesicht und dreht und wendet sich nur, wenn der „Chef“ es wünscht.

Es wäre zwecklos, wenn ich in die Handlung eingreifen würde wollen, bevor sie zu Ende ist, denn der Loisi läßt sich nicht ungestraft um seinen „Job“ bringen. Außerdem täten mir die Anderen was erzählen, wenn ich sie ums Eintrittsgeld prellen wollte. Also muß ich warten, bis der Loisi seinen Vortrag beendet hat und das Publikum sich animiert und befriedigt zerstreut hat, bis der Loisi seine Helfer ausbezahlt, dann erst traben wir nach Haus ins 27er Haus, wo die Mutter grad die Suppe aufgetragen hat und auf dem Gang die Blodiceks warten, bis wir mit der Handelsware auftauchen. Ein Schnitzel, das fürs Nachtmahl schon zu Mittag ausgegeben wird und das uns die Blodiceks gegen klingende Münze abhandeln. Damit ist der heißersehnte Kinobesuch in der Kindervorstellung finanziert, und die drei Finanziers verspeisen mit Heißhunger und Wohlbehagen das soeben erstandene Schnitzel.

***

Im November fängt die Mizzi an, mit uns Weihnachtsgedichte einzustudieren. Da wir alle sehr begabt sind, können wir Fockischen das unsere nach ein paar Tagen fix und fertig, trotzdem es ein ellenlanges Gedicht ist, mit unzähligen Strophen und sich immer mehr und mehr steigernder Dramatik, was ja auch zum Ausdruck gebracht werden soll. Ich hab das „Bettlermädchen“ gekriegt, eine schaurig gefühlvolle Geschichte vom doppelten Waisenmädchen, das den fremden Leuten bei denen es wohnt, immer wieder zu wenig verdient und anscheinend auch für Kost und Quartier ihrer Hauptmieter aufzukommen hat, bei Androhung von Schlägen und sonstigen Schikanen. Es endet ‒ wie im Märchen bei dem Mädchen mit den Schwefelhölzern ‒ mit dem erlösenden Tod in der Weihnachtsnacht, sogar am Grabe der lieben Mutter, was mir immer sehr imponiert hat, weil der Weg zum Friedhof nach meiner Vorstellung ganz schön weit war und ein kleines Mädchen, ohne Schuhe mit nichts im Magen und bei Schnee und Eis sich ganz schön anstrengen muß, um das zu derpacken.

Die Mollarz-Mizzi, genannt der O-Wagen auf der 6er-Strecke (wegen ihrer entzückenden O-Beine), hat der Neid nicht ruh’n lassen, und sie hat es auch gelernt und dann am heiligen Abend bei uns, in Anwesenheit ihrer stolzen Eltern aufgesagt. Ihr erstes Auftreten war ein wirklich sensationeller Erfolg. Wir Kinder sitzen fein säuberlich aufgefädelt auf einer Bank und harren des Aufrufs der Reihe nach. Als Gast und Kind der Gäste hat die Mollarz-Mizzi natürlich Vorrang, was uns Anderen schon ein bissel wurmte. Aber dann wurde es plötzlich lustig und immer lustiger. Zum Schluß können wir das Lachen schon nicht mehr zurückhalten und kichern dauernd, was dem Vater sehr peinlich ist, der sich selber des Lachens kaum erwehren kann und nur aus Höflichkeit eisern ernst zu bleiben versucht. Tierisch ernst hingegen sitzen die Erzeuger vom O-Wagl, sie findens einfach hinreißend von ihrem Sprössling und merken gar nicht, daß die Vorstellung eigentlich am Rande eines Skandals spielt.

Unser Vater, der keiner Fliege etwas zu Leide tun könnt, wird ungemütlich, wenn es um die Verletzung der Gastlichkeit geht. Da erfindet er die blutrünstigsten Redewendungen wie: „Ich stoß’ euch mit die Schädln zusamm’, daß euch die rote Suppe herausspritzt!“ Diesen Satz dürfte er wohl für das Drohendste schlechtweg gehalten haben und er hat ihn öfter zitiert, sicher ohne zu ahnen, was er eigentlich ausdrückte. Da er des Wiener Dialektes nicht mächtig ist, hat er sich eine lustige Mischung von Hochdeutsch- und Wiener Fachausdrücken zugelegt, was oft genug Anlaß zu Heiterkeit gegeben hat.

Auch die Mutter erlernte die „zünftige“ Aussprache nicht, doch hat sie nie geböhmakelt, wie z.B. die Frau Gmeiner, die ein wüstes Konglomerat an daitsch-behmischer Ausdrucksweise von sich gibt, was wiederum nur den Eingeweihten, in dem Fall nur uns Kindern verständlich ist. Sie hat zwei hoffnungsvolle Söhne, davon der jüngere genannt „Pudl“ (Poldl) ein Freund vom Hansi ist. Dieser Puhl, Puul oder eben Pudl, wird von seinem lieben Mütterlein des öfteren vom Fenster der im letzten Stock gelegenen Wohnung heimgerufen, doch der Knabe, Sprössling eines selten daheim weilenden Eisenbahners und einer erziehungsunfähigen Mutter, schert sich kaum um das, was seine Mutter von hoch oben herunterruft. Außer sie ruft zum Essen. Doch wenn die Frau Gmeiner schreit: „Pudl, auffikommst, wort bis kummt Vater, kriegst mit Pašek“, dann wackelt der Pudl mit keinem Ohrwaschl, und ich weiß gar nicht, ob er im Wortlaut überhaupt mitgekriegt hat, was ihm so drohend angekündigt wird.

Der „Pašek“ ist zu deutsch ein Lederriemen, meistens der, den die Männer kühn um den Leib geschlungen tragen und der zur Stütze der Hosenträger oder ‒ bei fortschrittlichen Geistern ‒ sogar an Stelle derselben getragen wird. In meinen Gesellschaftskreisen pflegen die Männer und Väter sich dieses „geschmeidigen“ Kleidungsstückes zur Züchtigung ihrer ungebärdigen Kinder zu bedienen. Die Anschaffung eines „Staberls“ wäre wohl zu kostspielig und außerdem stilwidrig gewesen.

Einmal hat die Frau Gmeiner sich bitter bei der Mutter beklagt, weil der Hansi ihrem Pudl beim Zerstören einer Höhle auf der Wiesen mit einem Pflasterstein den Finger gequetscht hat. „Frau Focke, ihnare Hansi meine Pudl Finger oquatschen hat.“ Die Mutter hat’s zur Kenntnis genommen und dem Hansi auf jeden Fall eine geschmiert, ohne viel zu fragen, wieso es zu diesem „oquatschen“ gekommen ist.

Eines Tages erhielten die Gmeiners die österreichische Staatsbürgerschaft und die glückstrahlende Besitzerin der Urkunde verkündete es laut in der ganzen Umgebung, im „echten Wiener Jargon“ wie man sich lebhaft vorstellen kann.

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Die Lintschi ist eine große Tierfreundin und bringt fast jeden Tag einen Hund mit heim, der ihr irgendwo zugelaufen ist. Da gibt es ein Flehen und Weinen, man möge ihn behalten und die Mutter läßt es halb und halb dabei bewenden. Dann aber, wenn die Lintschi eingeschlafen ist, wird das edle Tier wieder auf die Straße gebracht und alles geht zu Bett. Am nächsten Morgen gibt es zwar ein paar weitere Tränen, doch am Nachmittag ist schon wieder ein halbverhungerter Vierbeiner Gast bei uns und das Drama wiederholt sich.

Der Herr Lemp ist unser neuer Hausmeister, daß heißt, eigentlich ist es seine Mutter, aber der Sohn hat ein Fuhrwerksunternehmen nicht weit von uns und ein Pferdegespann. Die Lintschi rennt jeden Tag dorthin und macht sich immer wieder erbötig, die Pferde zu striegeln, bis er ihr’s halt erlaubt. Sie ist selig und ganz in ihrem Element. Dafür darf sie manchmal durch den Hof reiten, behütet vom Herrn Lemp, damit sie nicht herunterfällt.

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Eines Tages heißt es in der Religionsstunde: Nächste Woche ist erste Kommunion. Tagelang werden wir belehrt und eingewiesen, was wir alles zu beachten hätten dabei. Ich brauch das zwar nicht besonders, denn bei mir zuhaus wird man nach dieser Richtung ganz automatisch bestens informiert. Und dann kommt der Tag, wo man zur Beichte gehen muß und sich seine „Sünden“ fein säuberlich auf ein Blatt Papier notiert, um sie dem Beichtvater vorzutragen. In der Kirche gibt es mindestens drei Priester, die an diesem Nachmittag die Beichte abhören, doch ich gehe, naiv wie ich bin, zu unserem Klassengeistlichen, der mich sehr gern hat, weil ich immer alles weiß. Die anderen Mädchen wundern sich über mich, ich weiß nicht, welcher Art ihre Sünden sind, daß sie sich lieber einem schulfremden Seelsorger offenbaren wollen.

Und dann, am nächsten Morgen, versammeln wir uns vor der Schule und gehen, Klasse für Klasse, den Weg zur Kirche. Es ist fast 10 Minuten zu gehen bis dahin und bums, bin ich auch schon mit einem „herrlichen“ Dippl geziert, weil eine Laterne mir tückischerweise nicht ausweichen wollte. Die Andern lachen und ich trage es mit Humor.

Dann beginnt das Ritual des reihenweisen Vorgehens zum Altar, das Niederknien und die Konzentration auf das Kommende. Ist eine der Reihen abgespeist, tritt sie im Gänsemarsch den Rückweg an und reiht sich hinten wieder an. Die nächste Reihe kniet nieder und sperrt schon lange vorher den Schnabel auf. Nach einer Weile entsteht eine gewisse Unruhe und Bewegung. Ich sehe das ärgerlich gerötete Gesicht unseres Katecheten, der ein bissl ein Choleriker ist, und denke mir, daß etwas passiert sein muß. Und dann stellt sich heraus, daß die „erste Reihe“ der Kommunizierenden sich schon zum zweiten Mal hingekniet hat, um neuerlich Himmelsspeise aufzunehmen, und daß unser Klassengeistlicher auf einmal ein ihm bekanntes Gesicht gesehen hat, das erst vor ein paar Minuten schon „gespeist“ worden war. Geradezu in letzter Minute konnte also einer „Doppelspeisung“ noch verhindert werden. Ob das eine Sünde oder Katastrophe gewesen wäre, entzieht sich bis heute meiner Kenntnis.

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Die Frau Steffl ist eine im ganzen Bezirk bekannte Frau und Gattin eines Pferdefleischhauers, der viele Filialen in Favoriten und Umgebung besitzt. Sie selbst ist als weiblicher Mäzen bekannt, der jedes Jahr einige Kinder aus ihrem Kundenkreis zur Firmung führt, wenn man sie darauf anspricht. Meine Mutter, die bei besagter Frau Steffl sogar schon ausgeputzt hat und ihr daher persönlich bekannt war, erbittet für die Lintschi und mich die „hohe Ehre“, mit dem sofortigen Hinweis, daß der Firmpatin daraus keinerlei besondere Spesen erwachsen sollten, was uns Firmlinge nicht gerade freudig erregte, denn wir hätten liebend gern wenigstens ein neues Kleid erwartet. So müssen wir ein geborgtes, an allen Ecken und Enden scheußlich zipfelndes altes Fähnchen anziehen, das der Mutter von irgendeiner Nachbarin zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurde.

Am Vorabend des ereignisreichen Tages hat uns die Mizzi, die damals schon „erwachsen“ war (sie ist 10 Jahre älter als ich), die Haare mit Zuckerwasser eingedreht und am nächsten Morgen haben wir eine „wilde Urwaldfrisur“ mit fast waagrecht wegstehenden Haarteilen gehabt, steif und süß im wahrsten Sinn des Wortes. So aufgemascherlt präsentieren wir uns zur angegebenen Zeit der „Godl“, die uns mit leichtem „Silberblick“ ‒ sie schielt nämlich ein bisserl ‒ betrachtet. Nach der Zeremonie in der Stephanskirche sind wir mit einem „hauseigenen“ Fuhrwerk in den Prater gefahren und durften auf dem Ringelspiel fahren, wobei mir ganz elendiglich übel wurde. Anschließend zum Photographen, aber nicht vielleicht in ein „Atelier“, beileibe nicht, sondern zum „Schnellphotographen“. Dort wurden wir verewigt: in der Mitte die „schielende Godl“, rechts und links von ihr die beiden Patenkinder, gleichfalls mit Silberblick (wahrscheinlich um dem ganzen Bild die richtige Harmonie zu geben). Wie schade, daß diese Bilder, wie so manches lustige Familienbild auch, verloren gegangen sind.

Dann gibt es noch eine Jause und ein nicht gerade „überwältigendes“ Geldstück, und damit waren wir gefirmt! Das Geld hat uns die Mutter natürlich gleich abgenommen, wie immer mit dem Hinweis, daß wir sowieso für die Schule usw.

Das hat uns oft gekramperlt, zum Beispiel auch, wenn Besuch da war und wir uns auf Wunsch der Gäste gesanglich produzierten und dafür ein kleines Geldstück erhielten. Dann erschien auf dem Gesicht der Mutter ein gewisses Lächeln, das die anschließende „Abnahme“ bereits ankündigte und auch prompt in Szene ging, kaum daß der Gast fort war.

***

Wie ich schon gesagt habe, verrichtet die Mutter Malerarbeiten in der ganzen Gegend. Sie war wegen ihrer gewissenhaften Arbeitsweise sogar bei der Konkurrenz bekannt und geachtet. Um 4 Uhr früh ist Appell und Lagebesprechung seitens der Mutter und der Mizzi, die als Assistentin fungiert. Solange noch Schule ist, beginnt unsere Tätigkeit erst nach dem Mittagessen. Da sind die verschiedenen Kübel und Sackeln schon zum Abtransport bereit (meistens schon zur nächsten Kundschaft), die Mizzi hat schon den ärgsten Schmutz herausgewaschen und wartet darauf, nach Beendigung der Malerarbeit mit dem Ausreiben zu beginnen (das war meistens im Arbeitspreis inbegriffen), was der Hausfrau ‒ uns weniger ‒ willkommen war. Ich muß Wasser tragen und Türen waschen, dazwischen der Mutter noch beim „Patronieren“ helfen.

Dann, gegen 4 oder 5 Uhr ist Abmarsch und anschließend neuerliche „Befehlsausgabe“. „Du gehst einkaufen, du machst Feuer im Herd, du hilfst beim Kochen“ und so weiter, heißt es, und seufzend und todmüde setzt sich die Mutter auf ihren „Befehlsturm“, einen stabilen Küchenschemel, und massiert sich die schmerzenden Beine mit Franzbranntwein. Dann schält sie Kartoffel, gibt acht daß der Kaffee fürs Frühstück nicht „übergeht“ etc.

Mittags hat es nur die Schulausspeisung gegeben, seither nichts. Jetzt wartet alles hungrig auf’s Nachtmahl, das ‒ bescheiden genug ‒ meistens aus einem nahrhaften Gemüse und mitgekochten Kartoffeln besteht, oder einer Erdäpfelsuppe. Fleisch gibt’s nur Sonntag und hin und wieder für den Vater ein Stückerl wochentags.

Der „Morgenkaffee“ (Zichorie und Feigenkaffee) wird mit Sacharin und ein wenig Zucker gesüßt, Milch gibt’s grad nur zum Färben und Brot ohne jeden Aufstrich. Auch für die Schule gibt’s nur ein Stück trockenes Brot, manchmal einen Apfel. Ich sehe die Mutter vor mir, wie sie das Brot hält und Stück für Stück herunterschneidet und mit einem Seufzer konstatiert, daß der Laib fast zur Gänze aufgegangen ist und neues Brot gekauft werden muß. Der Glückliche, der es am nächsten Nachmittag holen darf, ist immer im Vorteil, denn die aufgesprungene Rinde ist besonders begehrt, und meistens gelangt das Brot im angeknabberten Zustand in die Hände der Mutter, die dem Mäuschen dann eine Strafpredigt hält und wenn’s besonders arg war, auch mit einer Tachtel nicht spart. Aber die Verlockung ist immer wieder zu groß und es passiert immer wieder. Das restliche Scherzel ist gleichfalls sehr begehrt und es wird heftig gestritten, wer es bekommen soll. Die Mutter hat’s wirklich nicht leicht, allen Wünschen gerecht zu werden, was Verbitterung bei den Benachteiligten auslöst und Volksgemurmel mit Worten wie Protektion oder Schiebung. Die Lintschi ist ja bekannterweise der Liebling der Mutter und versteht es immer wieder, durch Schmeicheleien und Getue manchen Vorteil vor den Anderen (besonders gegen mich) zu erringen.

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Als Rangälteste „der letzten Drei“ bin ich dazu verurteilt, die Kleider und Schürzen von der Mizzi und von der Toni aufzutragen, soweit sie überhaupt noch in einem tragbaren Zustand sind. Der Lintschi gelingt es oft genug, der Mutter eine neue Schürze abzuschmeicheln.

In meiner Schultasche befindet sich eine Schnur, mit der ich mir die viel zu lange Kleiderschürze, entsprechend meinem Geschmack und der gerade „in Mode“ stehenden Länge zurechtbinde, wenn ich das Haus verlassen habe.

Mit Beginn der warmen Jahreszeit (um Ostern herum) werden die Schuhe eingezogen und wir gehen selbstverständlich barfuß in die Schule, dafür aber wir Mädchen mit einem großen Raffkamm, der das Haar straff aus dem Gesicht streicht und den ganzen Tag in Ordnung hält. Wenn ich heute in ein Schulgebäude eintrete, verbinden sich der Geruch des ölgetränkten Fußbodens, der gewisse spezifische Geruch, der von der Zentralheizung kommt und die Ausstrahlung der Klassenzimmer zu einer Atmosphäre, die mir im gleichen Augenblick meine Kindheit zurückruft.

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Ich laufe schnell die Stiegen hinauf, während es schon die ganze Zeit geläutet hat und bin noch atemlos und auch nicht gerade zuversichtlich, wenn die Lehrerin die Kampfhandlungen beginnt und die Hausarbeiten einsammeln läßt. Viel Zeit und Ambition hab ich gestern nicht mehr gehabt, es gab im Haushalt zu viel zu tun, und ich bin nach dem Nachtmahl fast eingeschlafen über der Schreiberei. Die Rechnungen hab ich überhaupt nicht fertiggekriegt, die muß ich mir in der Pause von der Käsmaier Mizzi abschreiben. Die ist zwar oft arrogant und macht Einwände aber wenn ich ihr beim Gedichtaufsagen souffliere, ist es ihr nicht unangenehm. In diesem Fach bin ich ganz obenauf. Ich merk mir’s vom bloßen Durchlesen und behalt es sofort. Außerdem bin ich eine gute Aufsagerin und wirke bei den Schulfeiern als „erste Garnitur“ mit. Auch in Gesang und Religion und Deutsch bin ich führend, aber das Rechnen ist schrecklich. Da hinke ich mit meiner „Weisheit“ immer hinten nach, und wenn ich aufgerufen werde, ist es immer ein Versager. Doch ich wüßte nicht, bei wem ich mich erkundigen sollte. Zuhause haben sie keine Zeit für mich, die Schulkolleginnen sind entweder selber blöd oder Weimberln und Tratschen. So schwindle ich mich halt recht und schlecht durch und baue auf mein Glück, nicht zu oft dranzukommen bei der Tafel.

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Ein Erlebnis mit dem Fachlehrer Güntschel wird mir immer in Erinnerung bleiben. In der Bürgerschule wurde Stenographie gelehrt und in der Pause davor wurde die Tafel von fast einer jeden Schülerin mit einem Probesatz versehen. Ich habe mich natürlich auch daran beteiligt und den Satz: „Der Lehrer in der Schule“ irgendwohin geschrieben. Vielleicht hat … [unleserlich] … sehr blöd sein müßte, etwas derartiges auf die Tafel zu kritzeln, wäre es undenkbar gewesen, daß ich mir eine solche Entgleisung geleistet hätte, noch dazu, wo wir alle für diesen Lehrer schwärmten. Es kam zu einem Eklat und meiner Beteuerung, dies nicht geschrieben zu haben, wurde einfach nicht geglaubt, da der Lehrer steif und fest bei seiner Behauptung blieb. Ich wußte damals sicher nicht, daß es so etwas wie Psychologie gibt, doch die Tatsache, daß dieser Lehrer so wenig von seinen Schülern und ihren Möglichkeiten wissen sollte, hat mich lange Zeit erschüttert und verfolgt. Sie ist mir auch anscheinend bis heute in der Seele haften geblieben und erscheint auch jetzt noch so bedeutungsvoll, daß ich es sogar zu Papier bringen muß.

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„Lintschi, geh, hol mir ein Bier“, sagt die Frau Steiner, eine fesche, vollbusige junge Frau ohne Mann. Die Lintschi ist nicht abgeneigt, aber sie fragt sofort: „Was krieg ich?“ ‒ Naja, ein paar Mal gibt’s Trinkgeld, dann ist die Steinersche draufgekommen, daß ich’s umsonst mach’, und die Lintschi ist wieder arbeitslos. Ich hätt mich nie getraut, so unverschämte Forderungen zu stellen (Ich glaube, diesen Hang etwas umsonst zu tun, hab ich bis heute beibehalten).

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Wer kennt noch den Brauch des „Eintegelns“? Da gibt’s einige Variationen. „Tschapp die Hälfte“ zum Beispiel oder „Tschapp alles“, das ist die strenge Form dieses Rituals. Die Mollarz Mizzi ist das Opfer von Loisis Überredungskunst geworden, weil sie sich erstens bei ihm „eintegeln“ möchte, und andererseits, weil sie sich nicht traut nein zu sagen. Da ihr Vater Kutscher in der Drahtseilfabrik ist und den „Herrn Direktor“ fährt, gibt’s im Hause Mollarz immer gut zu essen. Zum Beispiel ein Butterbrot, für uns andere Kinder ein fast unbekannter Begriff. Die Mollarz Mizzi kanns nicht lassen, mit diesem Butterbrot auf die Straße zu kommen, vielleicht weil sie uns zeigen will, wie gut es ihr geht. Der Loisi lauert schon im Haustor und wie sie sichtbar wird schreit er: „Tschapp die Hälfte“, wobei er noch nobel ist, wie er sagt. Der armen Mizzi ist das Weinen näher als alles andere, doch sie muß ‒ den Buchstaben des Gesetzes treu ‒ teilen.

***

Mit dem Herbst beginnen auch wieder die Besuche der Eltern im tschechischen Theaterverein in der Eugengasse, bei dem auch der Pepi (der Älteste von uns) als „erster Liebhaber“ engagiert ist. Von dort hat er sich aus „seine Rosa“ geholt, ein schönes Mädchen, das aber mit einer bitterbösen, neidigen Mutter behaftet war und die auch noch viel dazu beitrug am Scheitern der späteren Ehe. Der Pepi war aber nicht nur Liebhaber, sondern auch „Komiker“ ‒ wie ja auch die anderen Fockischen alle eine gewisse schauspielerische Begabung und den Blick fürs „Komische rundum“ haben. Es gäbe von ihnen manches Erheiternde zu erzählen.

Für mich waren diese Vereinsabende eine „Quelle des Schreckens“! Einmal im Monat, jeweils am Sonntag, werden wir (der Sicherheit halber??) ab 6 Uhr abends in der Wohnung eingesperrt und damit beginnt für mich der Jammer. Erst einmal geht’s ja noch. Da liegen wir in den „Ehebetten“ und erzählen uns allerhand Geschichten, bis dann auf einmal die Lintschi und kurz darauf der Loisi eingeschlafen sind und ich voller Angst und von meiner wilden Phantasie kräftigst unterstützt ‒ auf jedes Geräusch achtend ‒ mir die fürchterlichsten Dinge einbilde, wahre Geistergeschichten erlebe und Schreckensbilder von zahllosen Ungeheuern erschaue.

Erst um 10 Uhr kommen die Eltern heim und haben keine Ahnung, in welcher Verfassung ich mich befunden hab und noch immer befinde. Ich habe darüber nie mit einem Menschen gesprochen. Ein bisserl ist mir die Angst vor Gespenstern bis heute geblieben.

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