Robert Schröfl


[up] [CV] [War Diary] [Letters] [Job] [Klingfurth]


* Not translated yet * Only german version available *


Aus meinem Leben

Klingfurth, im Jänner 1963

Schon seit langem habe ich mir vorgenommen, meine Aufzeichnungen aus den verschiedenen Begebenheiten im Leben in ein Ganzen zusammenzuziehen; vielleicht gibt mir der heurige strenge Winter die Zeit dazu. Ich will diese nun, wie ich sie seinerzeit geschrieben habe, wiedergeben:

Russe (Bulgarien), Dezember 1935

Als wir vor einigen Jahren ein Tagebuch unseres Großvaters mütterlicherseits fanden, gingen seine Aufzeichnungen in unserer Familie rundum und wir freuten uns, daß wir ein Stück unserer eigenen Geschichte erfuhren, besonders weil sie aus einer ereignisreichen Zeit, aus dem Revolutionsjahr 1848, stammten.

Und vielleicht wird es unseren Enkeln genau so gehen. Auch sie werden Blatt für Blatt unserer Aufzeichnungen, wenn solche noch vorhanden sind, aneinanderreihen und werden versuchen, sich von unserer Zeit ein Bild zu machen. Sie werden in diesen Blättern vielleicht manche Regungen, manche Gefühle, manche Veranlagungen entdecken, die ihnen wie ihre eigenen erscheinen. Sie werden an manchem spüren, daß sie eben unsere Nachkommen sind.

Darum will ich beginnen, meinen und meiner Familie Lebenslauf wiederzugeben, so weit ich diesen heute noch übersehen kann. Sollten sich Fehler einschleichen, so bitte ich die Leser dieser Blätter, sie zu berichtigen. Ich selbst will wenigstens versuchen, alles so niederzuschreiben, wie ich es als wirklich annehme.

Wenn man sich wundern sollte, warum ich gerade hier in Bulgarien auf den Gedanken komme, mit meiner Geschichte anzufangen, so möchte ich gleich dazu sagen, daß ich hier als Bauleiter bei der Aufstellung einer Telefonzentrale tätig bin und eben jetzt, da ich allein bin, wahrscheinlich doch über genug freie Zeit verfügen werde, um ein tüchtiges Stück in dieser Arbeit vorwärts zu kommen.

Ich bin das jüngste von sechs (acht) Kindern und geboren am Einsiedlerplatz im V. Wiener Gemeindebezirk, in Margareten. Mein Geburtstag war ein Sonntag, der 16.Oktober 1892. Wie mir meine Geschwister erzählten, begrüßte mich die Natur mit einem Hagel-Unwetter, das alle Fensterscheiben zerschlug und die Hagelkörner bis in die Betten warf. Ich habe aber, wie man sieht, diesen ersten Schrecken überstanden.

Meine ersten Erinnerungen fallen in die Zeit, wo ich noch ein Kleidchen getragen habe. Früher war dies, ob Bub oder Mädel, in den ersten Lebensjahren der Fall. Ich sehe mich vor einem großen Spiegel in einem rosa Kleidchen neben meiner Schwester Olga stehen und ich erinnere mich sehr gut an die runden schillernden Perlmutterknöpfe auf diesem Kleid.

Dann erinnere ich mich, daß ich aufwache und daß bei meinem Bett Holzsoldaten stehen, mit dunkelblauem Waffenrock und rotlackierter Hose, das Gewehr geschultert. Diese hat mit meine Schwester Emma von einem Verwandtenbesuch aus Budapest mitgebracht. Meine Schwester sehe ich aber nicht, nur immer meinen Papá, dessen ich mich in meiner Kleinkinderzeit viel mehr erinnere als meiner anderen Familienangehörigen. Papa ist viel um mich, wenn ich aufstehe, mit einem Stück Würfelzucker, oder wenn ich zeichne.

Wir wohnten damals in Ottakring, in der Sandleitengasse, die in der Zeit gegen den Wienerwald noch ganz frei war, von der Wohnung hatte man einen schönen Ausblick auf den Gallizinberg, den Heuberg und die Sängerwarte. Papa ging oft mit mir spazieren. Ich erinnere mich an einen Ausflug auf den Klosterberg, wo uns ein starkes Gewitter erwischte. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich mich damals fürchtete. Erst wenn man größer wird, lernt man sich vor dem Donner zu fürchten. Papa nahm mich auf den Rücken und ziemlich durchnäßt kamen wir zu Hause an. Damals wurde die Vorortelinie der Stadtbahn (Dampfbetrieb) gebaut und ich schaute mit Papa immer lange zu, wie gearbeitet wird. Die kleinen Kippwägelchen waren das Ideal aller Kinder.

Von meiner Mamá habe ich aus dieser Zeit nur wenig in Erinnerung, auch nicht von meinen Geschwistern. Erst in meinem vierten oder fünften Lebensjahr kommen diese Gestalten in meinen Lebenskreis. Das ist wohl darauf zurückzuführen, daß Mama und die Geschwister tagsüber nicht zu Hause waren.

Mein Papa selbst hatte durch verschiedene Erziehungssünden in seiner Familie - die Kinder wurden sehr verwöhnt - nicht die Kraft, für seine eigene Familie zu sorgen. Geschäftliches Unglück im Verein mit Erfahrungen mit der Schlechtigkeit von Leuten, zu welchen er in geschäftlicher Hinsicht Vertrauen hatte, machten ihn, der schon vom Vaterhaus nicht viel Lebenskunst mitbrachte, unfähig dazu, von vorne ein neues Leben zu beginnen. So mußte meine Mutter, um nicht mit der Familie zu Grunde zu gehen, arbeiten. Obwohl meine Familie durch die mangelnde Tüchtigkeit Papas eben in meiner Kleinkinderzeit sehr litt, habe ich von meinem Vater viel Liebe erhalten und, wie ich glaube, auch eine Grundlage für mein weiteres Leben.

Ich habe bis heute das Gefühl, daß meine Eltern trotz aller Schwierigkeiten gut miteinander gelebt haben. Ihr Leben war ein Leben der Mäßigkeit, Papa rauchte gerne seine Virginia, trank aber nie viel. Meine Mutter war wohl das Haupt der Familie, aber sie hat in ihrer Güte und Liebe diese Familie wirklich richtig gepflegt. Unsere Liebe zu ihr ist noch heute, mehr als dreißig Jahre nach ihrem Tod, in mir und meinen lebenden Geschwistern wach. Oft, wenn die Erinnerung uns in die frühere Zeit versetzt, hört man: „Ja, die Mama, das war halt eine Frau!“ oder „Die Mama hat das damals immer so gemacht.“ und dgl. Sie starb 1905, in meinem dreizehnten Jahr.

Ein Erlebnis aus meiner Vorschulzeit ist mir noch frisch in Erinnerung: Ich spielte mit anderen Kindern auf einer Wiese. Wieso ich damals allein war, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich erzählte ich ihnen dann von daheim, denn auf einmal lachten sie und verspotteten sie mich und riefen: „Jud, Jud, Jud, der is a Jud, der sagt zu seinem Vater Papá, mit dem spiel’n ma nimmer, mit so an Jud’n!“ Ich wußte damals natürlich nicht, was „a Jud“ ist, dachte aber, daß das etwas sehr Schlechtes sein muß und daß ich auch schlecht bin, weil die Kinder nicht mehr mit mir spielen wollten. Und meine Eltern, die den Kindern ja fast immer als Idealgestalten gelten, waren also auch schlecht. Ich lief fort, wie ich nach Hause kam, weiß ich nimmer. Daheim getraute ich mir nichts zu sagen und habe diese Begebenheit auch lange, bis ich schon aus der Schule war, für mich behalten. Erst als ich später einmal den Sinn erfaßt hatte, gelobte ich mir, daß, wenn ich einmal Kinder haben sollte, sie nur Vater und Mutter sagen zu lassen. Und so wurde es auch.

Nun war ich beinahe schon 6 Jahre, es sollte bald das Schulgehen beginnen. Ich freute mich schon sehr darauf, hatte aber in anderer Weise wieder viel Angst, denn es zeigte sich bei mir, daß ich, trotz Ermahnungen der Eltern, alles links in die Hand nahm. Nach meinen Begriffen zeichnete ich damals ganz gut, aber links. Vielleicht sagten meine Eltern zu mir: „Na wart’, in der Schule ....!“ Ich weiß es nicht, hatte aber wegen meines Übels eine Heidenangst vor dem Lehrer. Ich war der bestimmten Meinung, daß ich rechts gar nichts lernen werde und konnte nicht verstehen, warum man nicht gerade so gut links wie rechts schreiben und zeichnen sollte.

Die Zeit ging weiter, als Vorspiel zur Schule wurde ich geimpft und es kam der Tag, an dem ich, diesmal mit meiner Mutter, einschreiben ging.

Mir war furchtbar schwer ums Herz, als wir in das Schulgebäude hineingingen. Der Oberlehrer, ein alter Herr (nach meinen Begriffen) mit einem Vollbart, machte die Eintragungen. Meine Mutter sagte ihm wahrscheinlich von meiner Links-Begabung, denn er nahm mich auf den Schoß und war so lieb zu mir, daß ich bald meine Angst vergaß, ja, ich ging mit einer großen Freude über diesen lieben Herrn nach Hause und konnte den Schulanfang gar nicht mehr erwarten. Es ging dann auch in der Schule ganz gut, aber leider war ich dort nur zwei Wochen, denn im Oktober 1898 übersiedelten wir nach Weidlingau.

Meine Mutter hatte auf einem Spaziergang eine Jugendfreundin, Frau Artmann, wiedergetroffen, die uns einlud, zu ihr nach Weidlingau zu kommen.

Ich glaube, daß durch diese Übersiedlung mein Leben eine andere Richtung bekam. Schon aus gesundheitlichen Gründen, denn, wie mir meine Geschwister später erzählten, in Wien war ich nie ganz gesund gewesen. Draußen war doch viel mehr Freiheit, die wir Kinder auch redlich ausgenützt haben. Die Familie Artmann bestand aus 4 Personen: Herr Artmann, ein pensionierter Hauptmann, Frau Artmann, ein Bub Robert, um 3 Jahre älter als ich und ein Mädchen Paula, beinahe gleichaltrig mit mir.

Die erste Klasse machte ich in Weidlingau fertig, die nächsten ließen mich meine Eltern in Wien (Hütteldorf) machen, da sie zu der Schule draußen kein richtiges Vertrauen hatten. So fuhr ich als kleiner Knirps früh und nachmittag mit der Bahn. Ich war natürlich sehr stolz darauf, trotzdem ich mir damals die Waggontüre nicht allein aufmachen konnte. Viele Schaffner, Bahnwächter und Passagiere wurden meine Freunde.

In der zweiten und dritten Klasse hatte ich wieder einen alten Herrn als Lehrer, den ich sehr lieb gewann und in der Schule fand ich auch meinen ersten Freund.

Er war der Sohn eines Gärtners in Hütteldorf und hatte zur Pause immer zwei Semmeln mit. Davon bekam ich häufig eine, welcher Umstand meine Freundschaft wahrscheinlich sehr stärkte. Oft war ich bei ihm zu Hause, da machte es uns das größte Vergnügen, auf der Göpelstange zu sitzen, die von einem Pferd im Kreise gedreht wurde, um Wasser aus dem Brunnen zu pumpen, wenn abends die Gemüsebeete gegossen wurden. Hier ließen wir unserer Phantasie freien Lauf, machten Zukunftspläne und bauten phantastische Eisenbahnen, die Lokomotiven mit riesigen Holzrädern. Als Antrieb dachten wir uns gewaltige Uhrfedern. Und während uns der Braune im gleichmäßigen Schritt im Kreise fuhr, lösten wir die schwierigsten Probleme.

Nun war bei uns auch das Alter da, wo wir uns fragten: „Woher kommen denn die Kinder?“ Mein Freund erzählte mir, daß ihm ein Dienstmädchen sagte, es würde aus einem Ei, wenn man es auf den Ofen legte, ein Menschenkind. Wir machten es uns leicht und nahmen diese Erklärung an, denn an das Storchenmärchen glaubte ich nie. Schon viel früher hatte mir jemand, vielleicht war es eine meiner Schwestern, das Geheimnis erklären wollen, doch kann ich mich noch heute erinnern, daß ich dies nicht für möglich hielt.

Zu Hause hatte ich nun in Paula eine treue Spielgefährtin. Das war sehr gut für mich, denn meine Geschwister waren alle sehr viel älter als ich; mein Bruder Rudolf um 11 Jahre, meine Schwestern Emma und Olga um 14 und 13 Jahre, meine Brüder Heinrich und Richard um 19 und 17 Jahre. Zwei Geschwister, Eduard und Helene, sind schon lange vor meiner Geburt gestorben. Mit Paula spielte ich, besonders wenn wir allein waren, sehr schön. Wir spielten, sobald wir allein waren, meistens „Vater und Mutter“, wir hatten Kinder und unsere Spiele zogen sich, vor allem in den nächsten Volksschuljahren, meistens durch Wochen hindurch. Wir feierten Weihnachten mit unseren Kindern, machten, wenn es auch mitten im Sommer war, einen Christbaum. Von den paar Hellern, die Paula manchmal erhielt, kauften wir uns Zuckerln und Bäckerei, wir wurden krank und wieder gesund und hatten unsere Sorgen wie in einer richtigen Familie. Paula fuhr später in eine Klosterschule nach Wien, wir trafen uns auf der Bahn wie Mann und Frau, sprachen über unsere Kinder u.s.w. Später hörten wir, daß wir oft von den anderen Passagieren belauscht worden waren.

War jedoch Paulas Bruder Robert, er hieß der „große Robert“, während ich, da wir zwei Robert im Hause waren, der „kleine Robert“ gerufen wurde, war also Robert dabei, so gab es meistens Eifersüchteleien und Zank.

Herr Artmann hatte für die Gartenarbeit einen Knecht namens Karl. Dieser spielte sehr gerne mit uns Kindern, so daß es Regel wurde, daß wir nach Feierabend gemeinsam herumtollten. Damals konnte man noch rund ums Haus gehen. So spielten wir „Fangerln“, da dieses Spiel aber seine Eigenart dadurch hatte, daß wir immer nur ums Haus herumliefen, wurde es „Karl“ genannt. Abends wurde dann gefragt: „Was tan ma denn?“ „Tan ma Karlspieln!“ war meistens die gemeinsame Antwort. So rannten wir, auch Artmanns Hund „Flockerl“ war dabei, mit Karl rund ums Haus, bis es finster wurde. Oft war auch noch ein anderes Mädel dabei, die Maruschka, eine Verwandte von der alten Dienstmagd der Artmanns, der Liesl. Die Liesl war ein altes Hausfaktotum, ich glaube, schon an die 60 Jahre. Sie war oft unsere Hilfe, wenn etwas schief ging. Und abends, wenn es draußen schon zu finster war, blieben wir bei ihr in der Küche und meistens wurde gesungen.

Meine Geschwister waren in dieser Zeit im Weidlingauer Gesangsverein und wir hatten dadurch ein Beispiel und die Anregung zum Singen. Einmal veranstalteten wir im Sommer eine Kinderliedertafel, bei welcher Solo- und Gemeinschaftslieder gesungen wurden. Gäste waren meine Geschwister, die Hausleute und Sommerparteien, Weidlingau war ja damals noch eine Sommerfrische. Dabei ging es sehr lustig zu, ich erinnere mich, daß sich mein Bruder Heinrich als Dame mit langer Schleppe verkleidete und daß auch sonst viel Ulk getrieben wurde. Meine Brüder Richard und Heinrich hatten viel Humor, mein Papa übrigens auch.

Auch sonst gab es im Hause Artmann viel Fröhlichkeit, da Frau Artmann selbst sehr lustig war. So wurden die Geburtstage der Hausherrenleute meist gefeiert, beim 50sten des Hausherrn überreichte mein Papa eine sehr ulkige Denkschrift und meine Geschwister sangen ein Quartett mit eigenem humoristischen Text.

Das schönste Fest war natürlich Weihnachten. Der vorher kommende „Krampus“ wurde eine zeitlang mit einem gewissen Bangen erwartet. Ich bekam zwar meine Äpfel, Nüsse, Zuckerback, aber der Krampus selbst kam nie zu mir. Dafür bin ich meinen Eltern noch heute dankbar. Es hat mir genügt, daß er mit der Kette an die eiserne Bodentür schlug, denn ich war ein sehr furchtsames Kind. Zu den Hausherrenkindern aber kam er alle Jahre. Lustig war es einmal, als ein Krampus, es war Alfred, ein Sohn Herrn Artmanns aus erster Ehe, vor den Kindern die meiste Bäckerei aufaß, den Rest einsteckte und verschwand.

Aber das Weihnachtsfest mit seinen friedlichen Vorbereitungen, das war etwas für mich!

Wie doch die Phantasie der Kinder oft in Wirklichkeit übergeht! Am ersten Heiligen Abend in Weidlingau schaute ich, schon feiermäßig angeregt, vielleicht auf Aufforderung, bei unserer Küchentür, die ein kleines Fenster hatte, hinaus ins Freie und - ich sehe es heute noch - da flog das Christkind nicht weit von mir vorüber!

Später, nach ein oder zwei Jahren, hatte ich nochmals so eine eingebildete Gestalt gesehen. Das Zimmer, das wir bewohnten, hatte eine Stelle, wo die Lampe nicht ganz hinscheinen konnte. In diesem Raum sah ich einmal abends ein kleines Männchen, ähnlich einem Gartenzwerg mit hoher Mütze stehen. Ohne meinem Papa, der auch im Zimmer war, etwas zu sagen, schaute ich im ersten Schreck weg, nach einiger Zeit aber doch wieder hin und da war es noch immer, wenn auch in etwas veränderter Stellung. Nun getraute ich mich nimmer hinzugucken und später war der Spuk weg. War diese Spukgestalt ein Schatten gewesen oder nur in meinem Gehirn entstanden, ich weiß es nicht. Jedenfalls sollte man Menschen, die in anderer Weise solche Trug bilder sehen, nicht als Lügner oder Narren betrachten.

Ja, zu Weihnachten, da gab es zu backen und auch zu verpacken. In späteren Jahren durften wir Kinder bei den Vorbereitungen mithelfen. Wie oft fielen da Bäckereien, Bonbons oder Schokolade unter den Tisch, ohne daß es jemand merkte, nachher wurde es verstohlen aufgehoben und verzehrt. Heimlich wurden Kasten und Schränke durchsucht um zu sehen, was wir zu Weihnachten bekommen würden! Dann das Spielen nach der Bescherung! Der gute Weihnachtsbraten am nächsten Tag und für mich besonders der Zellersalat. Ich glaube, ich esse diesen heute noch so gerne, weil er mich an diese selige Kinderzeit erinnert.

Aber auch sonst war es bei uns zu Hause schön. Meine Geschwister kamen zwar abends nicht alle gleichzeitig heim, aber dennoch wurde möglichst gewartet, bis alle vollzählig waren und erst dann wurde gegessen. Meine Mama war sehr dafür, daß wir abends alle beisammen waren. Und auch sonst war sie sehr für Geselligkeit. Wenn ich mich an die ersten Jahre in Weidlingau zurückerinnere, so sehe ich sonntags immer eine Menge Leute bei uns, meist junge Menschen. Das war auch verständlich, meine Geschwister waren im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, meine Schwestern hübsch und lieb, was auch ein Anziehungspunkt war. Es war immer lustig und fidel bei uns, es wurde im Garten gespielt, und dann auch abends im Zimmer, so daß ich Kleiner auch auf meine Rechnung kam, zumal mir die Besuche auch häufig etwas zum Naschen mitbrachten.

So ging die Volksschulzeit schön dahin. Ich hatte meine Spielgefährtin Paula, einmal wurde ich von einer Sommerpartei nach Wien eingeladen, verbrachte dort einen Weihnachtsfeiertag und durfte das erste Mal ins Theater, in die Volksoper in „Dornröschen“ gehen. Im Sommer kamen die Kinder von den Sommerparteien, wir tollten herum, manchmal wurde gestritten oder auch gerauft, aber es war eine herrliche sorgenlose Zeit, besonders weil wir draußen inmitten der Natur die Freiheit genießen konnten.

Zwei Ereignisse aus dieser Zeit sind mir noch in Erinnerung, denn sie zeigten mir, daß das Leben auch ernst sein kann, es war der Tod eines Onkels (Rudrich) und ein Unfall einer Sommerpartei. Mein Onkel schied freiwillig aus dem Leben, Geschäftssorgen sollen die Ursache gewesen sein. Die Frau einer Sommerpartei füllte Spiritus unvorsichtig in den Brenner nach und geriet in die Flammen. Wenn mein Papa sie nicht schreien gehört und das Feuer geistesgegenwärtig mit Decken gelöscht hätte, wäre die Frau verbrannt. So kam sie mit argen Brandwunden davon. Das letztere ist mir besonders in Erinnerung, weil ich später von dieser Frau einen Gulden erhielt. Ich dachte mir damals, warum kann so etwas nicht öfter passieren, natürlich nur in Bezug auf den Gulden.

Während meines letzten, fünften Schuljahres (damals gab es noch fünf Volksschulklassen) erwägte man daheim, ob man mich nicht weiter in eine höhere Schule gehen lassen sollte, da ich ein guter Schüler war. Nach Aussprache mit dem Lehrer kamen meine Eltern zu dem Entschluß, daß ich eine Realschule besuchen werde.

Mir war es, ehrlich gestanden, ganz egal, in welche Schule ich weiter gehen würde. Ich fühlte mich in der Volksschule sehr wohl, da wir einen netten Lehrer hatten, der mit uns manches nicht zum Lehrplan gehöriges machte. So hatten wir auch ein Gesangsquartett, was mich besonders freute, da ich schon seit jeher gerne singe. Ich kannte auch von meinen Geschwistern einige Lieder, allerdings nicht immer zu meinem Vorteil. Denn es passierte mir einmal bei einer Vorführung (ich glaube, es war zum Schulschluß), daß ich mich bei dem Lied „Draußt ist alles so prächtig“ irrte und bei der Stelle „wenn im Garten bedächtig a Sträußle i hol“ den Text der Großen „wenn mein Schätzle bedächtig u.s.w.“ sang, wodurch meine Mitsänger natürlich aus dem Konzept kamen und vom Singen aufhörten. Ich erkannte im Moment nicht warum, dann aber, als ich meinen Irrtum bemerkte, wurde ich puterrot und wußte nicht, wo ich mich verstecken sollte. Nun, man lachte, und wir mußten das Lied nochmals singen, aber nun gab ich fein acht.

Ich machte also nach Beendigung der fünften Klasse die Aufnahmsprüfung für die Realschule, bestand diese und rückte nach den Ferien in die Privatrealschule in der Diesterweggasse in Penzing ein. Warum mich meine Eltern in eine Privatschule schickten, ist mir heute nicht mehr klar. Die erste Zeit ging es ja ganz leidlich dahin, aber nach ein paar Monaten war ich wie ausgewechselt. Die Ursache weiß ich nicht, war es die Gesellschaft der anderen Jungen oder der neuerliche Umzug nach Wien, da meine Familie dachte, durch Einsparung der Fahrgelder nach Weidlingau besser durchzukommen. Da meine Eltern für mich ein Privatschule ausgesucht hatten, konnte ich nicht in die Realschule, die gleich neben unserem Hause war, gehen, sondern mußte täglich mit der Straßenbahn nach Penzing fahren. Ich fuhr aber manchmal nicht sondern ging und kaufte mir für das Geld allerhand Spielerei, natürlich ohne daß die Eltern davon wußten. Ja, es kam so weit, daß ich oft zu spät in die Schule kam und dann, um mir diese Unannehmlichkeit zu ersparen, überhaupt nicht mehr in die Schule ging. Ich war, mit einem Wort, Schulstürzer und verbrachte die Unterrichtszeit auf der Straße. Das Resultat des ersten Semesters war, daß ich keine Schulgeldbefreiung mehr bekam, da ich nicht nur kein Vorzugsschüler war, sondern in den meisten Gegenständen eine schlechte Klassifikation bekam. Und da meine Eltern das Schulgeld nicht bezahlen konnten, so mußte ich in die Bürgerschule übertreten.

Und hier wurde es wieder im guten Sinne anders. Ich wurde wieder der fleißige Schüler, wenn mir das auch im Anfange schwer wurde, und mit Ausnahme des Rechnens hatte ich wieder ein halbwegs anständiges Zeugnis.

Nun hatte sich aber meine Familie darin getäuscht, daß durch die Wohnung in Wien etwas erspart werden würde. Denn meine Geschwister zog es doch sonntags, wenn es draußen schön war, hinaus und dann waren es nicht nur die Fahrtkosten sondern auch zusätzliche Ausgaben, die schließlich eine ganz schöne Summe ausmachten. Man bahnte also wieder Beziehungen mit Artmanns in Weidlingau an und vereinbarte, daß wir im Frühling aufs Neue dorthin ziehen sollten.

Meine Geschwister wollten, daß Mama, die bis jetzt noch gearbeitet hatte, nun zu Hause bleiben sollte. Dies geschah auch noch in Wien, aber nicht lange konnte sie sich der Ruhe freuen, denn bald danach erkrankte sie. Die Weidlingauer Luft wird sie schon wieder gesund machen, so dachte man. Aber es war nicht so. Denn leider verschlechterte sich ihr Zustand, es war ein tückisches Gallenleiden, und meine liebe Mutter konnte den schönen Frühling 1905 nicht mehr lange genießen.

Ein Abend aus dieser Zeit ist mir noch sehr in Erinnerung. Es war vielleicht im Mai, Mama und ich saßen auf unserem Platzl beim „Tempel“ (ein Lusthaus, das wegen seiner Bauart mit 4 Säulen so genannt wurde). Mama trug eine grünkarierte Bluse, die nach damaliger Mode über die Schoß getragen wurde. Ihr schon ein wenig graues Haar war mit einem Schopf nach hinten gekämmt, ihr Gesicht war von der Krankheit etwas gelb, besonders das Weiße in den Augen. Ihr Sinn war wie immer froh, ich saß neben ihr, mein Kopf ruhte an ihrer Brust, sie faßte meine Wangen und drückte mich fest an sich. Die Abendsonne war eben untergegangen, auf einigen Wolken sah man noch ihren Schein. Alles war ruhig, nur eine Amsel sang in dem Akazienbaum ihr herrliches Lied. Wir beide waren ganz still, vielleicht war dies ein unbewußtes Abschiednehmen voneinander.

Bald nachher verschlimmerte sich ihr Zustand zusehends und sie mußte in ein Spital nach Wien, wo man eine Operation vornehmen wollte. Und dort starb sie nach einer Gallenoperation. Man sagte, daß infolge einer Modetorheit in Mamas Jugend, wo sich die Frauen sehr stark schnürten, die Galle so weit verlagert wurde, daß das Herz bei der Operation nicht standhielt.

Einen Tag vor Mamas Tod war ich noch bei ihr im Spital. Sie war sehr schwach, doch als Kind sah ich das nicht sondern freute mich schon auf den Abend, wo ich im Musikvereinssaal die Jahreszeiten und einige vertonte Lieder von Walther von der Vogelweide hören sollte.

Am nächsten Tag, es war Sonntag, hatte ich noch immer die Lieder im Kopf, den Anfang des einen weiß ich noch heute:

Ging eine unsrer Fraue
des Morgens vor dem Taue
u.s.w.

Nach dem Essen fuhren meine Schwestern nach Wien, um Mama im Spital zu besuchen. Es war herrliches Frühlingswetter und ich ging in den Garten, ins Waldl, um meinen ersten Roman, „Der Kanzler von Tirol“, weiterzulesen. Später kamen dann die „Kinder“, der schon 16jährige Robert, die 14jährige Paula und ein Mädchen von einer Sommerpartei, die Erna, eine Handelsschülerin. Sie sah schon wie ein Fräulein aus, ich als Jüngster getraute mich nicht mehr, „du“ zu ihr zu sagen, wir sprachen uns schon per „Sie“ an. Erna war aber sehr herzlich und ich freute mich, daß sie mich immer „Robertl“ nannte. Unsere Spiele wurden, da wir uns schon groß dünkten, ernster, wir plauderten allerhand „Vernünftiges“, aber dann ging doch wieder die Kindheit mit uns durch und wir rannten zur Hutschen und tollten herum. Wir waren glückliche junge Menschen.

Aber jäh wurde alles vernichtet. Meine Schwester Olga kam zurück und rief mich zu sich. Auf dem Wege vom Waldl nach vorn sagte sie mir, daß unsere Mama gestorben ist.

Ich weiß heute nicht mehr, ob ich die ganze Schwere von Mamas Tod damals begriffen habe, es war aber ein großer Schmerz in mir, wenn ich dachte, daß ich Mamas liebe Augen nicht mehr sehen, ihre liebe Stimme nicht mehr hören sollte. Wie oft habe ich ihr gelauscht, wenn sie am Abend, wenn alle zu Hause waren, im Kreise der Familie vorlas. Ganz besonders erinnere ich mich an Roseggers „Die Schriften des Waldschulmeisters“, aber auch andere gute Bücher las Mama gerne vor.

Es waren traurige Tage. Dann kam das Leichenbegängnis, Mama war in Wien aufgebahrt, ihr liebes Gesicht war sehr verfallen. Ich wollte ihr, nun zum letzten Male, einen Kuß auf die blassen Lippen geben, ich war aber zu klein und konnte nur ihre Nase erreichen. Warum mich da nicht jemand höher hinaufgehoben hat, weiß ich nicht, wahrscheinlich waren alle mit ihrem Schmerz allein. Ich faßte Mamas Kopf mit beiden Händen, er ließ sich aber nicht herüberdrehen, so küßte ich ihre Nase.

Dann wurde der Sarg verschlossen. Von der Kirche ging es zum Friedhof, dann zum Grab. Ein Bestattungsmann nagelte beim Grab ein kleines Messingschild auf den Sargdeckel. Der Nagel war, wie ich sah, viel zu lang und mußte innen mindestens noch 3 cm vorstehen. Den Gedanken, daß sich Mama beim Versenken daran stechen würde, konnte ich lange nicht aus mir herausbringen. Der Sarg wurde hinuntergelassen, dumpf fiel die Erde, die wir als letzte Zeremonie nachwarfen, auf den Deckel - es war vorbei.

Vielleicht, daß sich die Liebe zu meiner Mama nun eine Ableitung, einen Ersatz suchte, ich fand bald nach Mamas Tod einen Freund. Es war der Sohn im Winzerhaus Mühlndorfer. Bei ihm und seiner Familie erlebte ich in den nächsten Jahren viel Schönes. Seine Eltern haben mir viel Liebe gegeben und der Umgang mit ihm und seinen Geschwistern hat mir in meiner Entwicklung viel geholfen.

Hansl hatte eine Schwester - und die hatte ich gleich sehr lieb. Lene lernte Klavier und spielte oft zusammen mit ihrem Bruder, der Flöte blies. Bei diesen Übungen war ich öfter Zuhörer und war glücklich. Und dieses Gefühl der Glückseligkeit hatte ich immer, wenn ich meine Sonne (wie ich sie bei mir nannte) auf dem Schulweg sah oder wenn sie an unserem Haus vorüberging. Ich hütete streng mein Geheimnis, ja, ich getraute mich nicht einmal, ihr „Du“ zu sagen. Wir sprachen überhaupt wenig miteinander und wenn, dann per „Sie“. Dabei war ich dreizehn und sie erst 11 Jahre alt. Auch heute noch, wenn ich das „Vilja-Lied“ aus der „Lustigen Witwe“ höre, muß ich an diese herrlich Zeit denken. Zu der Melodie dieses Liedes dichtete ich damals Verse, die meinen Schatz anhimmelten. Sie sind vergessen, vielleicht ist’s gut so.

Unsere Bürgerschule war in Purkersdorf und trotz des Weges von ¾ Stunden ging ich gerne hin. Der Schulweg war bei schönem Wetter erträglich und es gab viel Unterhaltung mit den anderen Buben. Die Lehrer hatten mich gerne und ich sie auch. Unser Zeichenlehrer war nach den damaligen Begriffen sehr fortschrittlich und hielt den Unterricht oft im Freien ab. Da ging es dann in den Wald, es wurde ein wenig gezeichnet, dann schickte er uns zum Erdbeersuchen bis zu einer vereinbarten Zusammenkunft. Aber in anderer Weise hielt er sehr auf Disziplin und wir wußten genau, daß es mit der Freiheit ein Ende hätte, wenn wir über die Schnur hauen würden. Auch gab es im Zeichenkammerl einen Rohrstock, den „Heiligen Geist“, der dann in Aktion trat, wenn seine Güte mißbraucht wurde.

Wir hatten auch einen strengen aber sehr lieben Deutschlehrer. Er las uns viele Gedichte von Klassikern vor, erklärte uns die verschiedenen Versmaße und regte so unsere poetische Ader an.

O, Frühlingssonne, o Frühlingszeit,
Wie fern, ach, bist du geblieben!
Es sehnt sich die ganze Welt so weit
Nach dir, der holden, der lieben,
Mit deiner Wärme, mit deiner Pracht,
Mit deiner feurigen Sonne.
In jedem menschlichen Leibe lacht
Das Herz voll Liebe und Wonne.

Dies ist ein Produkt der damaligen Zeit. Es ging noch weiter, über den Sommer, den Herbst und den Winter, doch habe ich den Rest vergessen. Gezeigt habe ich diese Dichtungen natürlich niemandem. Als der Deutschlehrer einmal, ich weiß nicht mehr auf welche Weise, das Blatt mit dem Gedicht in die Hände bekam, fragte er mich, ob ich das gemacht hätte. Ich aber schämte und verleugnete mich. Warum war ich so dumm? Der Lehrer hätte sich vielleicht doch gefreut, wenn er seine Bemühungen, uns für die Poesie zu interessieren, wenigstens erwidert gesehen hätte.

Zu Weihnachten 1906 hatten wir in der Schule eine Feier, zu der auch die Eltern eingeladen wurden. Gewöhnlich holte ich meinen Freund zum Schulweg vor seinem Hause ab; ich verständigte ihn mit unseren Pfiff, dem „Holländer-Motiv“. Auch am Tage der Feier, es war ein schöner Wintertag und es schneite leise, pfiff ich ihm und ging vor seinem Hause wartend auf und ab. Wie ich mich umdrehe, steht seine Schwester vor mir, mit neuem grünen Mantel und hellem Pelzkragen, am Kopf eine Art russischer Mütze, und lachte mich an. Ich war vollkommen verwirrt, sie kam mir vor wie eine Erscheinung, wie das Christkind selbst. Ich konnte sie nur hilflos grüßen und ihr am ausgeschaufelten Weg Platz machen. Ich war wirklich sehr schüchtern.

Hansls Eltern kamen zum Fest und luden mich ein, mit ihnen nachher eine Schlittenfahrt zu machen. Von Purkersdorf ging’s nach Gablitz, dort wurde eingekehrt und gejausnet, und in einer herrlichen, kalten Winternacht fuhren wir dann über Alhang und Mauerbach nach Hause. Ich saß im Schlitten neben Lene und war überglücklich und konnte kein Wort herausbringen. Ich wünschte nur, die Fahrt nähme kein Ende.

Zwei Wochen später kam mein Austritt aus der Schule. Ich hatte die dritte Bürgerschulklasse zur Hälfte wiederholen müssen, da ich für mein Alter zu klein war, um in eine Lehre aufgenommen zu werden. Seit jeher wollte ich Mechaniker werden.

Am Tage meines Schulaustrittes (5.I.1907) hatte ich einen Rodelunfall, bei welchem ich mir eine Fußverletzung zuzog, die genäht werden mußte. Der behandelnde Arzt, Dr.Heckmann, nahm die Operation vor und obwohl er den weiten Weg am selben Tag zweimal machen mußte, verlangte er von uns kein Honorar. Er wollte sich das Geld von Baron Laudon, mit dessen Tochter, die meine Fahrtgefährtin war, als mir der Unfall passierte, einholen. Wie ich erst viel später erfuhr, bekam er dort aber nichts.

Daß ein Unglück meist nicht allein kommt, zeigte sich bei uns. Am nächsten Tage verletzte sich meine Schwester, gleichfalls beim Rodeln, so schwer, daß sie ein paar Tage später starb. Sie hatte schon als Kind eine Operation durchzumachen, von welcher sie ein steifes Knie behielt. Natürlich könnte man jetzt sagen, damit hätte sie eben nicht rodeln sollen. Aber sie war sehr lebenslustig, tanzte, machte alle Ausflüge mit und rodelte auch schon jahrelang. Das Unglück wollte es eben, daß meine Schwester mit dem steifen Fuß an eine Laterne fuhr, wodurch das Bein nochmals gebrochen wurde. Emma mußte ins Spital und starb dort nach einigen Tagen durch ein Blutgerinnsel an Herzschlag.

Ich selbst lag noch zu Bett, als ihr Begräbnis stattfand. Emma war meine Lieblingsschwester, denn sie war oft mit mir fort, wenn sie im Sommer als Schneiderin wenig Arbeit hatte, auch nahm sie mich oft in Schutz und wenn ich nicht ganz brav war, sagte sie nie etwas davon meinen Eltern (meine Schwester Olga war in dieser Hinsicht viel konsequenter), aber ich fühlte doch nicht diese Trauer in mir wie bei meiner Mama.

Am Tage des Begräbnisses kam mein Freund zu mir, so daß ich nicht allein zu sein brauchte. Seine Eltern schickten mir eine Menge Bäckerei und eine Flasche Wein, die wohl für die Familie bestimmt war. Wir spielten zusammen und versuchten, Esperanto zu lernen. Für seine Schwester erfanden wir den Namen „Kara solina“ (schwarze Sonne), denn ich vertraute ihm an diesem Tage mein Geheimnis an und er wußte nun von meiner Verehrung seiner Schwester.

Aber das Verhältnis, wenn man es so nennen darf, wurde nicht besser, ja, ich wurde noch zurückhaltender und als Hansl ihr meine Zuneigung mitteilte, war’s ganz aus, obwohl sie sagte, es wäre ihr recht. Ich vermied nun, soweit möglich, die Besuche bei Mühlndorfers überhaupt. Aber doch hatte ich Lene sehr lieb und lag oft, voll von Sehnsucht nach ihr, stundenlang hinter einem Busch am Mühlberg und war glücklich, wenn ich sie über den Hof ihres Hauses gehen sah. Ich schrieb, wo ich nur konnte, die Anfangsbuchstaben ihres Namens, M L, ritzte mir mit einem Messer den Buchstaben L in den Arm und so dergleichen Dinge. Unter diesen Umständen war es wahrscheinlich gut, daß eine Änderung in meinem Leben eintrat.

Am 2.April 1907 wurde ich zu einem Mechanikermeister in der Währingerstraße in die Lehre gegeben. 4 Jahre Lehrzeit, ohne Vergütung, ohne Urlaub. Die Arbeitszeit war von ½ 8 Uhr früh bis ½ 7 Uhr abends, mit einer Stunde Mittagspause, also 10 Stunden. Mein Meister war sonst ein guter Mensch, aber er brauchte viel Geld für seine drei Töchter, die er lernen ließ. So kam es, daß wir zwei Lehrbuben, Gesellen waren keine da, sehr ausgenützt wurden.

Außer den Schraubstöcken und zwei Drehbänken waren keine Arbeitsbehelfe da. Die Drehbänke hatten beide Fußantrieb, eine war noch aus Holz, wahrscheinlich schon über 100 Jahre alt, und nur auf dieser durften wir zwei Buben arbeiten, die andere, eine einfache Richterbank, war nur für den „Herrn“ da.

Da ich nicht richtig auf den Schraubstock hinaufreichte, war meine erste Arbeit, mir eine Treppe anzufertigen. Und die große Handfeile nahm ich natürlich zuerst in die linke Hand. Nach dem ersten Arbeitstag schlief ich wie tot. Ich hatte den ganzen Tag mit der großen Handfeile gearbeitet und spürte meine Arm kaum. Aber bald gewöhnte ich mich an die Arbeit und auch an die Umgebung. Vor allem gefiel mir die älteste Tochter unseres „Herrn“ sehr gut, weil sie sehr hübsch und zu uns Buben immer lieb und freundlich war. Gewöhnlich kam unser Meister erst um 8 oder ½ 9 Uhr von der Wohnung in die Werkstätte. Wenn Ida in der Abwesenheit des Vaters da war, so brauchten wir nicht zu arbeiten sondern saßen, ich auf meiner Treppe zu ihren Füßen, der andere Lehrling und später die anderen auf dem Gestell der Drehbank oder auf der Werkbank und erzählten uns verschiedenes. Ihre jüngere Schwester lernte Singen und so erzählte uns „Fräulein Ida“ viel vom Theater, von Sängern und Schauspielerinnen und von dieser und jener Unterhaltung, bis draußen die Tür ging und dann hieß es: „Schnell, der Papa!“ und schon arbeiteten wir alle fleißig.

Auf diese Art wurden wir zwar sehr zur Unaufrichtigkeit erzogen, aber in anderer Weise erfuhren wir auch viel Nützliches für’s Leben. Ida besorgte uns später oft Karten für die Volksoper, die in der Zeit meiner Lehre eine Muster-Singbühne und das Sprungbrett für die Hofoper war. Auch die Jeritza fing hier an und ich hatte manchmal Gelegenheit, sie zu hören. Dadurch, daß ich öfter billige Karten bekam, 2.Rang, 12.Reihe um 75 Heller, lernte ich auch viele Opern kennen und die Musik noch mehr lieben.

Die vier Lehrjahre vergingen schnell. In dieser Zeit gab es viele technische Neuerungen, die von uns Jungen mit Begeisterung verfolgt wurden. Besonders die Luftschiffahrt machte große Fortschritte. Bleriot machte damals seine Kanalüberquerung, das Luftschiff Graf Zeppelin kam anläßlich des 60jährigen Regierungsjubiläums unseres Kaisers Franz Josef I. nach Wien. Es fanden auch große Festlichkeiten in Wien statt, Illuminationen und Umzüge. Aber auch politisch waren diese Zeiten ereignisreich. Oft fanden große Demonstrationen für das Allgemeine Wahlrecht und auch Teuerungsdemonstrationen statt. Militär griff ein, die Wiener Regimenter weigerten sich, Bosniaken wurden gerufen, es wurde geschossen und es gab Tote.

Mein Meister hatte mich immer nur „Kleiner“ gerufen, was mich ärgerte, weil er die anderen beim Taufnamen nannte. Und alle Tage hieß es zwei- oder dreimal: „Klaner, geh ma zum Richter!“ oder „Klaner, geh ma zum Pichler!“ denn die meisten Gänge mußte ich machen, da ich der Jüngste war. Fahrgeld für die Tramway gab es höchst selten und so war ich oft 4 bis 5 Stunden täglich unterwegs. Das war für mich ja sehr interessant, aber ich lernte nicht gerade viel auf diese Art. Wir erzeugten Lehrmittel für Schulen und die Lieferungen mußten mit einem Geschäftsdreirad oder einem Handwagen erledigt werden. Wenn ich von Währing zum Margarethenplatz mußte, besuchte ich oft meine Tante Elise (eine Schwester meines Vaters) in der Gumpendorferstraße. Besonders zu Mittag zog es mich dorthin und das hatte folgenden Grund. Ich bekam von meiner Schwester Olga wöchentlich das Fahr- und Kostgeld, 1 Gulden 20 Kreuzer, immer am Montag. Wir hatten zwar schon etliche Jahre Kronenwährung, doch rechnete alles noch mit Gulden. Nun war ich doch auf dem Lande aufgewachsen und sah in der Stadt, besonders am Anfang meiner Lehrzeit manches, was ich gerne haben wollte. Und da sah es mit der Einteilung meines Geldes schlecht aus. Wenn ich dann am Mittwoch oder Donnerstag schon alles aufgebraucht hatte, bedeutete das, daß ich in der Früh vom Westbahnhof in die Währingerstraße zu Fuß gehen mußte und am Abend wieder zurück. Und dabei den ganzen Tag fasten! Wenn mich an solchen Tagen meine Wege nach Mariahilf führten, dann machte ich bestimmt eine kleine Unterbrechung bei Tante Elise, denn die Gute ließ mich nie hungrig von ihr gehen, obwohl sie eben in dieser Zeit auch große Sorgen hatte.

Meine Familie war in dieser Zeit schon sehr zusammengeschmolzen, Mama und Emma gestorben, Richard mit seinem Arbeitsplatz nach St.Gotthard (Ungarn) übersiedelt, Heinrich heiratete noch vor Mamas Tod und war nicht mehr daheim, und Rudolf war beim Militär in Cattaro (Süddalmatien).

Daß Rudolf so weit weg kam, hatte folgenden Grund. Er war vorher bei einer deutschnationalen Verbindung. Die Deutschnationalen waren vor dem ersten Weltkrieg eine politische Partei, welche den Anschluß an Deutschland und den Abfall vom Katholizismus („Los von Rom“-Bewegung) unter anderem zum Ziele hatte. Es wurden regelmäßig Sonnwendfeiern abgehalten und bei einer dieser Feiern machte mein Bruder die Dummheit, in Uniform über die Flammen zu springen. Dabei soll er das damals gebräuchliche Sprüchlein gesagt haben:

Schwarz ist die Hölle,
gelb ist ihr Schein,
drum will ich niemals
ein Schwarzgelber sein!

Schwarz-Gelb war die Farbe der Habsburger und es war vorauszusehen, daß bei der damals vorwiegend christlichsozialen Einstellung der Bevölkerung die Sache auffliegen würde. Rudolf bekam seinen Arrest und wurde, er hatte schon eine Charge, degradiert. Unser Hausherr, Herr Artmann, war Hauptmann a.D. und setzte sich für ihn ein. Dadurch wurde Rudolf von seinem Wiener Regiment in den entlegenen Winkel ganz im Süden der Monarchie versetzt. Aber es war dort eine Beförderung möglich, während er sonst als Gemeiner seine ganze Dienstzeit, damals waren es drei Jahre, hätte mitmachen müssen. Mein Bruder wurde Längerdienender, blieb in Cattaro, heiratete eine Wienerin und hatte einen Sohn, der als Major im Generalstab im zweiten Weltkrieg fiel. Mein Bruder starb 1962, seine Frau 5 Jahre früher.

Da fällt mir eben, im Zusammenhang mit „Schwarz-Gelb“, eine Begebenheit ein. Im Jahre 1898 wurde anläßlich des 50 jährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Josef I. am Gallitzinberg die Jubiläums-Aussichtswarte errichtet. Von Ottakring aus war der Weg dorthin schwarz-gelb markiert. Deutschnationale Studenten malten nun in der Nacht zwischen dem Schwarz und dem Gelb einen roten Streifen, so daß die Wanderer in der Frühe, es war ein Sonntag, eine schwarz-rot-gelbe Markierung vorfanden. Ein damals streng verbotenes Symbol, es waren die Farben vom erträumten Großdeutschen Reich. Was blieb den Behörden anderes übrig, als schleunig die Markierung herunterzukratzen?

Von unserer einst achtköpfigen Familie blieben also nur wir drei, Papa, Olga und ich. Es schien, als hätte unsere Mama bei Lebzeiten die Familie zusammengehalten. Mein Papa hatte wie immer keine Beschäftigung und führte uns den Haushalt. Olga sorgte für uns, sie war zwar verlobt, wollte aber erst nach meinem Freiwerden heiraten.

In meinem dritten Lehrjahr bekamen wir einen Praktikanten. Er mußte für die Ausbildung selbst bezahlen, hatte dafür aber eine Lehrzeit von nur drei Jahren. Er stammte aus einer alten Wiener Familie, sein Vater war höherer Bankbeamter und hatte beim Wiener Männergesangsverein eine leitende Stellung. Ich freundete mich mit Karl und auch mit seinen Leuten an, wir plauderten und sangen bei ihm daheim. Karl interessierte sich sehr für Chemie und wir machten oft Versuche in seiner Wohnung, bis wir einmal einen großen Wandspiegel durch eine Explosion zerschlugen. Daraufhin hatten die Experimente ein Ende.

Aber trotzdem war ich nach wie vor oft bei ihm und habe mit seiner Familie viele schöne Stunden verbracht. Das tat mir wohl, denn bei mir zu Hause war es doch sehr einsam geworden, wie ich schon erzählt habe.

Mein Lehrkollege und Freund Karl erkannte schneller und auch besser als ich, wie wir von unserem Meister ausgenützt wurden und wir sprachen oft erbittert darüber und heckten mancherlei aus, womit wir unserem Lehrherrn Ärger oder Schaden zufügen könnten.

Am meisten war uns die wöchentliche Reinigung der Werkstatt und des Geschäftes unangenehm, die wir nach Feierabend, am Samstag um ½ 7 Uhr, vornehmen mußten, daher beschlossen wir, nur passiv zu arbeiten. Wir mußten die Räume ausreiben, aber wir arbeiteten nur scheinbar und nichts ging weiter. Es wurde 8 Uhr, ½ 9 Uhr und wir hatten noch nicht einmal die Hälfte. Aber unser Meister war unerbittlich, es mußte fertiggemacht werden. So wurde es fast 10 Uhr und ich hatte Mühe, noch einen Zug nach Weidlingau zu erwischen. Aber auch wir hatten Geduld und nach einigen Wochen erreichten wir, daß mit der Wascherei früher angefangen werden durfte. Dann ging es freilich schneller und wir hatten die Genugtuung, daß wir etwas erreicht hatten.

Einmal im Winter schickte uns der „Herr“ bei ziemlich kaltem Wetter mit dem Handwagen liefern. Wir hatten Lehrmittel an Schulen in Hütteldorf und Lainz abzugeben, so daß wir den ganzen Tag unterwegs waren. Wir froren erbärmlich, einige Male kauften wir uns beim Branntweiner Tee mit Rum und wir nahmen uns vor, unserem Alten dafür ordentlich etwas anzutun.

Am nächsten Morgen verstopften wir das Rohr des Werkstattofens ganz oben bei der Mauer, schütteten altes Maschinenöl auf Papier und Holz und heizten ein. Das brannte natürlich schön, aber der ganze Rauch kam beim Ofentürl wieder heraus und verqualmte Geschäft und Werkstatt so, daß die Leute auf der Straße glaubten, es brenne bei uns. Wir mußten das Feuer im Ofen mit Wasser löschen und nachsehen, was der Ofen hat. Natürlich fanden wir nichts. Uns klapperten die Zähne, aber es war uns eine Befriedigung, daß auch der Alte fror. Also nocheinmal einheizen. Diesmal war der Meister dabei, also konnten wir kein Öl nehmen, dafür schmuggelten wir Stroh zum Unterzünden ein. Dasselbe Theater, Werkstätte und Geschäft waren wie Räucherkammern. Es qualmte wie ein Fabriksschlot. Mit Augen so rot wie die von Kaninchen versuchten wir mit großen Blechen, den Rauch aus den Räumen zu bringen, aber es nützte nichts, wir mußten nochmals löschen und der Rauchfangkehrer wurde geholt. Nun hatten WIR Feuer am Dach. Wir mußten schnell handeln, wenn wir nicht erwischt werden wollten. Einer schickte unter einem Vorwand den Meister in seine Wohnung, der andere räumte schnell das Ofenrohr aus und als der Rauchfangkehrer kam, brannte der Ofen auf unerklärliche Weise anstandslos.

Das waren Unterhaltungen für uns Lehrlinge.

Den Verkehr mit meinem Schulfreund Hansl hielt ich auch während meiner Lehrzeit aufrecht, ja, er verstärkte sich noch, als ich, um mir etwas zu verdienen, an Sonntagen im Gasthaus seiner Eltern als „Zigarrenbua“ Zigarren, Zigaretten und Ansichtskarten verkaufte. Ich verdiente mir manchmal, wenn es viel Trinkgeld gab, 3-4 Kronen. Durch die Freundschaft mit Hansl hatte ich dabei eine etwas bevorzugte Stellung, ich gehörte ja doch schon ein wenig zur Familie, es war mir auch nicht so, als hätte ich mich bei Fremden verdingen müssen. Und auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, jeden Sonntag mit Hansls Schwester öfter beisammenzusein. Wir beide waren ja auch schon älter, ich 17, sie 15 Jahre, auch gingen wir mit den Brüdern öfter gemeinsam ins Theater. Lene und ich waren auch nicht mehr so schweigsam und redeten schon miteinander. Aber ich verschwieg noch immer meine Zuneigung, trotzdem ich sie immer noch sehr liebte. Oft, wenn es mir möglich war, stand ich manche Stunde am Loquaiplatz, wo sie eine Haushaltungsschule besuchte, nur um sie wenigstens aus der Ferne zu sehen.

Obwohl wir uns an den Sonntagen oft sahen, ergab es sich nie, daß wir beide allein waren und so suchte ich nach einer Gelegenheit, dies herbeizuführen um ihr zu sagen, was schon jahrelang mein Herz erfüllte. Ich bat ihre Eltern um die Erlaubnis, mit ihr allein ins Theater gehen zu dürfen. Heute weiß ich es noch ganz genau, am 17.März 1910 spielte man in der Volksoper den „Freischütz“, ich besorgte zwei schöne Karten und dann erst fragte ich sie, ob sie mit mir kommen will. Und - ich bekam eine abweisende Antwort: „Es kann wer Anderer ja auch mitgehen!“ Dies sagte sie mit der ihr eigenen Schroffheit, die sie wohl von ihrer Mutter geerbt hatte, welche aber eine Frau von ungewöhnlicher Güte und Liebe war.

Ich war von Lenes Antwort wie vor den Kopf geschlagen und konnte diese überhaupt nicht fassen. Vielleicht wäre es bei ruhiger Überlegung doch noch zu einer Aussprache gekommen, aber ich war durch den Ton so verletzt, daß ich wortlos von ihr schied. Mein Innerstes war ganz zerwühlt und dieser Zustand dauerte tagelang an,so daß mich Papa einige Male fragte, was denn mit mir los sei, warum ich so verstört bin. Ich sagte ihm die Ursache natürlich nicht. Was mit den Karten geschah, weiß ich nicht mehr, jedenfalls blieb mein Platz leer.

Ich habe Lene danach nur mehr selten getroffen, durch meinen Lehrkollegen Karl lernte ich ein Mädchen kennen, mit dem ich dann öfter beisammen war, aber diese Bekanntschaft konnte nicht lange gedauert haben, ich konnte so schnell die „holde Zeit der ersten Liebe“ nicht vergessen und denke auch heute noch an die Freuden und Leiden dieser jungen Jahre.

Lene sandte mir, als wir im Kriege in den Karpaten in einer dreckigen Stellung lagen, ein Paket mit Schokolade, über die ich mich sehr gefreut habe. Liebe Worte waren auch dabei. Sie heiratete dann einen Gastwirtssohn und Lehrer in Purkersdorf und bekam drei Söhne und eine Tochter. Ihr Mann starb früh und sie sorgte vorbildlich für die noch kleinen Kinder. Heute sind die Söhne schon in akademischen Berufen, wahrscheinlich auch schon verheiratet und Lene ist Großmutter.

Nun zurück zu meiner Lehre. Die 4 Lehrjahre vergingen auch und am 10.April 1911 wurde ich freigesprochen, zwei Tage danach trat ich durch Vermittlung eines Vetters, der ein Studienkollege des Werksdirektor von Siemens-Schuckert war, als Mechaniker dort ein.

Bis hierher die Aufzeichnungen aus Bulgarien.

Klingfurth, im Jänner 1964

Soweit die Jahre die Erinnerungen nicht verwischt haben, versuche ich die für mich wichtigsten Ereignisse von April 1911 bis zu meiner Abfahrt aus Konstantinopel im August 1914 aufzuzeichnen.

Bei Siemens-Schuckert fühlte ich mich im Anfang gar nicht wohl, kam ich doch aus einer kleinen Werkstätte, in welcher nicht einmal das notwendigste Werkzeug, das ein Mechaniker wenigstens kennen sollte, vorhanden war, in eine Werkstätte, die nach den modernsten Belangen eingerichtet war. Ich tat mich daher sehr schwer, um die mir übertragenen Arbeiten halbwegs gut zu erledigen. Doch fand ich bei den Kollegen manche Hilfe.

In diese Zeit fällt eine Begebenheit, die meinem Leben eine andere Richtung gab und, wenn ich zurückschaue, kann ich sagen, daß dieses zufällige Zusammenarbeiten mit einem Kollegen auf einer Vier-Spindel-Drehbank bei Schuckert sich günstig für meine Zukunft gestaltete. Ich verkehrte damals noch mit meinem früheren Lehrkollegen, auch in seiner Familie, und dort war man gewöhnt, öfters ins Gasthaus zu gehen, bei welcher Gelegenheit auch manchmal mehr als nötig getrunken wurde, auch war ich daran, mir das Rauchen anzugewöhnen. Ich muß nun sagen, daß mir diese Lebenweise nicht ganz richtig erschien, ich war dieses auch von Hause nicht gewöhnt, aber es waren sehr nette Leute und was ausschlaggebend war, junge Menschen. Ich wohnte in dieser Zeit nur mit meinem Papa allein, da Olga bald nach meinem Freiwerden im August 1911 heiratete.

Bei dieser gemeinsamen Arbeit mit dem Berufskollegen bei Schuckert sprachen wir natürlich von allgemeinen und dann auch von persönlichen Dingen und als ich ihm meine Bedenken über mein damaliges Leben mitteilte, fragte er mich, ob ich nicht mit ihm gehen wollte, er wüßte einen Kreis junger Menschen, die weder trinken noch rauchen und mehrmals in der Woche zusammenkommen um zu singen und sich auch religiös zu betätigen. Ich versprach, einmal mitzukommen und ging später wirklich mit ihm. Die Zusammenkunft war in einem Saal in der Lerchenfelderstraße und wir beide wurden gleich an der Türe freundlich begrüßt von einem Herrn, der nicht sehr gut deutsch sprach. Die Leute, es waren meist junge, waren zu einer Singstunde zusammengekommen. Diese wurde mit einem Gebet eingeleitet, was mich sehr peinlich berührte. Aber sonst war es ganz nett und ungezwungen, so daß ich mich eigentlich nicht fremd fühlte und mir vornahm, öfter hinzugehen. Ich erfuhr, daß hier Mitglieder einer amerikanischen Sekte zusammenkamen, welche von drei Missionären geleitet wurde. Sie nannte sich: „Die Heiligen der letzten Tage“, wurde aber in der Welt „Mormonen“ genannt. In weiterer Folge ging ich nun dorthin nicht nur zu den Gesangsstunden, sondern auch in die Bibelstunden und die Sonntagsversammlungen, nach welch letzteren es meist eine lustige Unterhaltung gab.

Mit einer Familie, die die Nebenräume des Saales bewohnte, hatte ich bald näheren Kontakt. Gesprächsweise entdeckten wir zufällig, daß wir uns schon von der Marchettigasse her kennen, wo wir im gleichen Stock wohnten, und ich sogar einige Male bei einem nur um ein Jahr älteren Mädel in der Wohnung war. Ich war damals 10 Jahre und wir erkannten uns natürlich nicht mehr. Ich befreundete mich mit dieser Familie und fühlte mich dort sehr wohl, da es bei mir daheim sehr einsam war und dort außer dem erwähnten Mädel, es war ja nun schon erwachsen, noch drei jüngere Kinder da waren. Auch unter den anderen Mitgliedern dieser Gemeinde fand ich liebe freundliche Menschen im gleichen Alter wie ich.

So trat eine Änderung meiner Lebensweise durch die Bekanntschaft mit der Mormonengemeinde ein, ich entfernte mich von meinem früheren Verkehr und wendete mich mehr den neuen Freunden zu.

Vor Weihnachten 1911 erkrankten mein Papa und ich und wir mußten nacheinander, zuerst Papa, nach ein paar Tagen ich, mit der Rettung ins Spital gebracht werden. Wir dürften uns mit Fleisch oder Wurst vergiftet haben, hatten hohes Fieber und große Magenschmerzen. Dies war auch der Anlaß, daß wir beide einsahen, daß das Alleinleben in Weidlingau nicht mehr so weitergehen konnte und wir entschlossen uns zu einer Änderung. Olga hatte sich mittlerweile mit einer Vorhangputzerei selbständig gemacht, dort konnte Papa wohnen, und ich entschloß mich, zu der Mormonenfamilie in die Lerchenfelderstraße zu ziehen, wo auch ein Kabinett frei war.

Vorher, noch in Weidlingau, erkrankte ich an einer sehr starken Angina und hatte einige Tage Fieber über 40°. In diesem Zustand hatte ich Empfindungen oder Träume, die ich heute in Worten gar nicht mehr richtig ausdrücken kann.

Ich befand mich in einem vollkommen finsteren Raum, erfüllt von Angst hier zu versinken und war machtlos, auch nur das Geringste dagegen zu tun. Das Grauen davor spürte ich gräulich, obwohl ich weder eine Stimme hörte noch sonst andere Eindrücke empfand. Ich brachte, als ich wieder besser wurde, das Erlebte in Zusammenhang mit der mir neuen Religion und beschloß, den Mormonen beizutreten, nach den Gesetzen derselben zu leben und mich taufen zu lassen.

Die Taufe war am 22.Feber 1912 in der Alten Donau. Bru der Pratt taufte mich durch Untertauchen und obwohl ich anneh me, daß es in dieser Jahreszeit doch noch kalt gewesen sein muß, spürte ich nichts davon.

Die zweieinhalb Jahre, die ich in dieser Gemeinschaft verbrachte, waren, so glaube ich, meinem Wesen nur zuträglich. Das Rauchen und auch das Trinken ließ ich nun ganz und es war für mich eine schöne Zeit unter meist gleichaltrigen Leuten, die mich, wie schon lange gekannt, in ihren Kreis aufnahmen. Durch die regelmäßigen Gesang- und Bibelstunden und die Sonntagsversammlungen bekam auch meine freie Zeit eine gewisse Ordnung.

Klingfurth, im Jänner 1965

Meine Berichte haben im Vorjahr wenig Fortschritte gemacht. Durch den Besuch von Emmi Dont von Feber bis April kam ich nicht zum Schreiben.

Bei Ehlers, der Mormonenfamilie, wo ich nun wohnte, verbrachte ich eine sehr schöne Zeit. Die älteste Tochter war ein Jahr älter als ich und wir verstanden uns sehr gut. Viele viele Stunden verbrachten wir abends im Gespräch, es gibt für junge Leute ja so viel zu erzählen. Vater Ehlers war schon längere Zeit in Amerika, als Vorläufer, denn die Familie hatte die Absicht, dorthin auszuwandern. Auch zwei Mädchen von 7 und 10 Jahren waren da, und da ich Kinder schon immer liebte, war das für mich eine schöne Zerstreuung. Weiters war da ein Junge von 15 oder 16 Jahren, mit dem meist viel Schabernack getrieben wurde. Und Mutter Ehlers war eine lustige, stets fröhliche Frau.

Die Familie brachte sich mit Zeitungsaustragen durch. Damals wurden noch die Zeitungen vom Verlag direkt in die Wohnungen der Abonnenten zugestellt. Dies geschah zeitlich in der Früh und ich half dabei. Morgens von 4 bis ½ 5 Uhr holte man die Zeitungen von der Ausgabestelle und verteilte sie. Friedels und daher auch mein Rayon war im 8 Bezirk, die Lederer- und die Kochgasse, mit den dazwischen liegenden Gassen. Nach dem Austragen war dann Zeit, nach einem herzlichen Abschied zur Arbeit zu Schuckert zu fahren.

In dieser Zeit lernte ich in der Gemeinde auch die Familie Dont mit den Töchtern Emmi und Lina kennen, die nach mir als Freunde dahinkamen. Beide waren Kinderfräuleins und machten einen sehr guten Eindruck, Emmi war die lebhafte, Lina mehr still. Die Mutter der beiden kam auch manchmal zu den Versammlungen und lud mich auch zu einem Besuch bei ihr ein. So wurde ich mit dieser Familie bekannt.

Einmal vor einer Sonntagsversammlung überreichte mir Emmi ein Billett mit einem kleinen Gedichtchen. Ich habe dieses Gedicht lange bei mir getragen, bis es mir im Felde in den Karpathen mit noch anderen Andenken abhanden gekommen ist. Es hatte mehrere Strophen und begann:

Laß doch Hand in Hand uns legen!
Nur die Blicke still es sagen,
Welchen wunderbaren Segen,
Wir in unsern Herzen tragen.

Beim Lesen dieser Strophe dachte ich zuerst an Emmi, da Emmi mehr poetisch veranlagt war und war verwirrt, Linas Unterschrift zu lesen. So entwickelte sich zwischen Lina und mir eine Freundschaft, dann Zuneigung und schließlich hatten wir uns wirklich lieb und dachten, miteinander durchs Leben zu gehen.

Bei der Gemeinde lernte ich auch die Familien Cerny, Hirschmann, Hrubesch und Mühlhofer kennen und mein Bekanntenkreis erweiterte sich zusehends. Bei manchen Familien war ich auch eingeladen, so bei Mühlhofers, die außer den Töchtern Valerie und Grete auch noch zwei Enkel, Hansi und Fredy hatten.

Anfangs 1914 kam wieder eine Veränderung in meinem Leben. Bei meiner Firma wurden Monteure für Konstantinopel gesucht und da die Bezahlung unvergleichlich besser war (300 Kronen im Monat), meldete ich mich und reiste Mitte Feber 1914 dahin ab. Ich habe dies nie bereut, denn die damalige Türkei war noch urtümlich, die Nationaltrachten wurden noch allgemein getragen, Frauen sah man nur verschleiert, im großen Basar kamen alle Nationen zusammen, man sah Inder, Neger, Araber, alle in ihren Trachten.

Es waren damals etwa 20 Monteure von Schuckert in Konstantinopel, die meisten interessierten sich aber nicht für die Sehenswürdigkeiten, sondern verbrachten die Zeit mit Mädeln oder im Gasthaus. Ich fand aber einen Kollegen, Kornmann, der gleich mir andere Interessen hatte, und wir machten zusammen viele Ausflüge in der Umgebung der Stadt. Die Fahrt am Bosporus bis zum Schwarzen Meer, die Fahrt zu den Prinzeninseln sind unvergeßliche Erinnerungen. Manchmal mieteten wir uns ein Pferd und ritten in die Gegend, oft fuhren wir mit einem Kahn hinaus. Auf der Prinzeninsel Halki fanden wir ein offenes Grab mit verwittertem Skelett. Hätten wir damals einen Sack oder eine unscheinbare Hülle gehabt, so hätten wir den Schädel mitgenommen. So nahm ich nur einen Wirbelknochen mit und habe ihn noch. Im Juni ließ ich Lina nachkommen und da unten günstige Verhältnisse für Erzieherinnen waren, kam später auch Emmi nach. So bildeten wir zu viert eine kleine gleichgesinnte Gesellschaft und wenn die beiden frei hatten, verbrachten wir die Zeit, unsere Jugendzeit, froh und glücklich miteinander.

Schön war es im Monat Ramadan mit dem Kahn zu fahren, rundum die beleuchteten Moscheen und die terrassenförmig angelegte Stadt mit ihren vielen Lichtern. Schön war es auch, bei dem von uns geliebten Platz „bei den Steinen“ zu sitzen, unter uns der Sultanspalast „Dolmanbaksche“, vor uns das mit vielen Schiffen und Booten besäte Wasser, gegenüber die alte Stadt Stambul mit dem Serail und weiter am anderen Ufer der asiatische Teil von Konstantinopel „Haidapascha“.

Es war eine sorglose glückliche und reine Jugendzeit.

Aber sie fand einen raschen und schmerzlichen Abschluß durch die politischen Begebenheiten in Europa. Schon im Mai mußte ich mich beim Österreichischen Konsulat zur Assentierung melden und wurde tauglich befunden. Da ich mir den Ort, wo ich einrücken mußte, aussuchen konnte, wählte ich Cattaro, wo mein Bruder Rudolf mit seiner Familie war und bei der Festungsartillerie diente. Das wurde aber durch die überstürzten Ereignisse gegenstandslos, denn ich wurde vom Konsulat nach Wien zur Kriegsdienstleistung abgefertigt.

Und nun folgen die Aufzeichnungen, die ich vor Jahren über die nun folgende Zeit und die Ereignisse machte.

Nun war es doch Wirklichkeit geworden, was die Herzen von uns Österreichern seit einem Monat mit Bangen erfüllte. Das Ultimatum an Serbien war von diesem nicht hinreichend beantwortet worden, wodurch sich Österreich gezwungen fühlte, an Serbien den Krieg zu erklären. Schon am 27.Juli 1914 erfuhren wir dies, sollten aber bald noch mehr überrascht werden.

Als wir am 1.August um unseren Gehalt in Vertretungsbüro der Siemens-Schuckert-Werke in Konstantinopel kamen, wurde uns dort die Aufforderung des Konsulates mitgeteilt, uns unverzüglich dorthin zu begeben, da Österreich allgemein mobilisiere. Dort angekommen, bekamen wir die Weisung, daß alle, die militärpflichtig sind, sich schon am nächsten Tag um 5 Uhr nachmittags auf dem Dampfer „Linz“ des Österr.Lloyd einzuschiffen haben.

Dieser unerwartete Vorfall rief natürlich nicht nur bei jedem Einzelnen sondern auch bei der Vertretung ungeheure Verwirrung hervor. Wir waren 13 Monteure, die momentan von der Anlage wegmußten; woher gleich Ersatz nehmen?

Auch mir war die Abreise recht unangenehm, waren ja auch Lina und Emmy Dont in Konstantinopel und wir hatten in den wenigen Monaten recht schöne Stunden verlebt.

Der Rest des Tages wurde zum Einkaufen und zum Abschiednehmen von allen Bekannten benützt. Darunter war auch ein Serbe, ein sehr lieber Arbeitskollege und wir wünschten uns nur, daß wir einander im Krieg nicht begegnen würden.

Am 2.August, es war ein Sonntag, regnete es in Strömen, ich mußte nochmals zum Konsulat, wo man mir in meinen Paß „Geht zur Kriegsdienstleistung nach Wien ab“ stempelte. Gepackt wurde nur das Wichtigste, den großen Koffer ließ ich bei Lina zurück. Am Nachmittag ließ der Regen nach, um ½ 4 Uhr, als wir zum Hafen fuhren, schien schon wieder die Sonne. Viele Passagiere, manche mit ihren Angehörigen, waren anwesend, auch alle Herren unserer Vertretung. Das Schiff lag in etwa 500 m Entfernung vom Ufer. Unter den Klängen der Volkshymne fuhren wir in einer Dampfbarkasse dorthin. Einer unserer Arbeiter, Siaschian, ließ es sich nicht nehmen, mein Gepäck zu besorgen. Unsere Barkasse wurde von den österreichischen und deutschen Barkassen der Gesandtschaften mit sämtlichen Mitgliedern begleitet. Auf dem Schiff wurden unsere Namen und die militärische Charge vermerkt und dann kam das Abschiednehmen.

Viele der Einrückenden waren Familienväter, manche Söhne der unten ansässigen Familien waren dabei, es war ein tränenreicher Abschied. Auch mein Arbeiter Siaschian hatte nasse Augen. Von den Gesandtschaftsbarkassen ertönten fröhliche Lieder, was die Traurigkeit ein wenig milderte. Nun hieß es, die Begleitpersonen müssen vom Schiff und als diese in ihren Kaiks waren, ertönte die Schiffsglocke, das Signal zur Abfahrt. Die Taue, die das Schiff mit den Bojen verbanden, wurden gelöst und aufgewunden, ein Pfiff, ein Läuten der Signalapparate und der Schiffskörper erzitterte von den Pulsschlägen der Maschine. Noch ein Pfiff und langsam drehte sich das Schiff nach rechts. Jetzt erst wurde der Anker aufgewunden und die „Linz“ setzte sich in Bewegung.

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und vergoldete die Kuppeln und Minarette der Moscheen. Leb wohl, Cospoli!

Vom Lande vernahm man schwach das „Hurrah“ der dort Winkenden, auch von der Barkasse unserer Gesandtschaft ein solches und bei beiderseitigem Absingen der Volkshymne ging’s durch ein Gewimmel von Schiffen, die uns mit einem dreifachen Senken der Flagge grüßten.

Noch konnte man manchmal zwischen den Schiffen hindurch die am Ufer Stehenden sehen, noch ein Blick zur Pont, durch den Bosporus hinaus und vorbei ging’s an dem Leanderturm, der Serailspitze, dem Leuchtturm hinaus ins Marmarameer.

Die Barkasse der deutschen Gesandtschaft begleitete uns noch weit, unsere war mittlerweile umgekehrt und man konnte darauf eine geradezu übermütige Stimmung bemerken. Einer der Herren in Frack und Zylinder erkletterte das mit Zelttuch bespannte Dach und sang uns so im Reitsitz das Lied „Alle Vöglein sind schon da“ vor. Etliche Sektflaschen wurden drüben geleert und die Gläser an unserem Bug zerschellt. Es dämmerte schon stark, als unsere Begleiter unter den Klängen der deutschen Hymne Kehrt machten.

Ruhig teilte unser Schiff die spiegelglatte See und während die letzten flammenden Wölkchen über der alt-byzantinschen Hauptstadt erloschen, kam über den Schneebergen Brussas der Mond herauf und überstrahlte spiegelnd das Meer mit silbernem Lichte.

Jetzt hatte man Muße, sich die Gesellschaft näher anzusehen, mit welcher man so unverhofft die Fahrt zur Heimat machte. Die meisten waren Vertretungsbeamte, Reisende, Monteure und auch Angehörige von in der Türkei ansässigen Familien. Ein blutjunges langaufgeschossenes Bürscherl ging freiwillig in den Kampf fürs Vaterland. Ein Matrose vom deutschen Stationsschiff „Loreley“ war auch dabei, der von seiner Regierung als Funker nach Pola kommandiert wurde.

Um 9 Uhr gab es Nachtmahl, Rindsbraten und Kartoffel. Die Unteroffiziere bekamen Kajüten, wir andern mußten trachten, uns auf Deck so bequem wie nur möglich für die Nacht einzurichten. Ich hielt mich meist auf dem Achterdeck auf. Lange saß ich da und schaute nach dem immer schwächer werdenden Lichte des Leuchtturmes von St.Stefano zurück, die Küste war nur mehr ein schwacher dunkler Strich. Mir war wehmütig zu Mute; liebe Leute blieben dort zurück und ich hatte auch dieses schöne Stück Erde lieb gewonnen. Was wird die Zukunft bringen? Es wurde schon lange vermutet, daß Rußland nicht neutral bleiben wird, auch würde sich Italien von uns abwenden, sagte man. Werden sich die so verwickelten diplomatischen Beziehungen so lösen lassen, daß der schon lange als Schreckgespenst auftauchende Weltkrieg vermieden wird? Solche und manch andere Gedanken beschäftigten mich in meiner selbstgewählten Einsamkeit, gleichmäßig pochte die Schiffsmaschine, gleichmäßig rauschten die vom Propeller aufgewirbelten Wasser, bald hatte mich der Schlaf umfangen.

Mitternacht mochte wohl schon vorbei sein, als mich ein Matrose aufweckte und mir sagte, wegen der zu erwartenden Niederschläge wäre es ungesund hier zu schlafen, günstiger ist es, mehr in die Mitte zu gehen. Ich hatte aber, in Anbetracht der herrlichen mondhellen Sommernacht keine Lust mehr, meinen Schlaf fortzusetzen, sondern wanderte auf dem Schiff herum. Dabei kam ich auch zum Bug und sah im Wasser ein liebliches Schauspiel.

Kaum 1 m vom Bug entfernt, tummelte sich eine Schar Delphine. Bald wie Pfeile vor dem Schiff einherschießend, bald Purzelbäume schlagend, ließen sie sich von dem aufschäumenden Wasser hin und her werfen. Wie Nixchen sahen sie in dem bläulich schimmernden Mondlicht aus.

Endlich übermannte mich doch der Schlaf und ich legte mich in ein Rettungsboot, wo ich gut schlummerte, bis die Sonne in mein Bett schien.

Wir waren schon in den Dardanellen, an den Ufern sah man Karawanen, ein russischer und ein italienischer Handelsdampfer begegneten uns und um 10 Uhr vormittags kamen wir an die engste Stelle der Durchfahrt. Ein türkischen Patrouillenboot stoppte uns und überprüfte die Schiffspapiere. Dann ging es hinaus ins Ägäische Meer, welches sich herrlich vor uns ausbreitete.Je mehr wir hinauskamen, desto bewegter wurde die See. Beim Mittagessen, das aus Suppe, Fleisch, Gemüse und Wein bestand, mußten wir wegen des Schaukelns gehörig aufpassen.

Den ganzen Tag ging es ziemlich einförmig dahin. Sehr weit entfernt sah man Inseln, das Wetter war strahlend, aber tropisch heiß, so daß die Abendkühle sehnsüchtig erwartet wurde.

Am nächsten Morgen weckten uns die Matrosen schon um 4 Uhr früh, wir kamen der Küste näher und „auf hohen Bergeszinnen“ winkte uns die Akropolis, unter ihr Athen. Es war ein erhebender Anblick. Aber es dauerte noch bis 10 Uhr, bis wir in den griechischen Hafen Piräus einliefen. Hier wurde ein Mann mit heftigem Fieber ausgeschifft. Er hatte am Vortag lange in der prallen Sonne gelegen und dürfte sich dabei die Krankheit zugezogen haben. Wir hielten nicht lange, ein paar Österreicher kamen an Bord und schon ging’s weiter. Im Hafen war auch ein russisches Kanonenboot, die Matrosen drohten uns bei der Ausfahrt mit den Fäusten.

Durch den deutschen Konsul in Athen erfuhren wir, daß eine Kriegserklärung Deutschlands an Rußland erfolgt ist, daß bei einem Seegefecht bei Kronstadt die deutsche Flotte eine schwere Niederlage erlitten hat, weiters soll Italien Österreich den Krieg erklärt haben und dergleichen freudige Nachrichten mehr. Auch die Griechen, sie verkauften uns zwar um ein Spottgeld wunderbare Weintrauben, waren nicht sehr freundlich und prophezeiten uns, daß wir von französischen oder englischen Kriegsschiffen abgefangen werden, wenn wir auf’s offene Meer hinauskommen. Um 1 Uhr mittag fuhren wir endlich ab, grüßend die in Piräus ankernden deutschen Handelsschiffe, bedroht von den Russen.

Mit Volldampf ging’s wieder hinaus auf’s Meer. Den Kanal von Korinth konnten wir nicht benützen, weil er, vielleicht auch nur für uns, gesperrt war. So mußten wir einen großen Umweg um die ganze griechische Halbinsel machen.

Ein Vorfall, der glücklicherweise gut ausging, unterbrach am Abend die Eintönigkeit der Fahrt. Als wir Lieder singend auf Deck saßen, erschraken wir durch den Ruf „Mann über Bord!“. Im Nu wurden die 6 Rettungsringe ins Wasser geworfen und die Rettungsboje gelöst, die mit einem langen Seil mit dem Schiff am Heck verbunden ist. Der Kapitän, der zuerst nicht wußte, was los ist, stoppte das Schiff, aber es fuhr natürlich noch ein paar hundert Meter von der Unglücksstelle weiter, wo man jetzt einen mit den Wellen ringenden, vom nächsten Rettungsring noch weit entfernt, sah. Wieder mit Volldampf voraus machte das Schiff eine Schleife, ein Rettungsboot wurde klar gemacht und mit einem Offizier und einigen Matrosen besetzt. Dann gab’s Kontradampf, das Boot wurde herabgelassen und mit kräftigen Ruderschlägen näherte es sich dem im Wasser kämpfenden, der knapp zuvor einen Rettungsring erwischt hatte, an den er sich nun mit aller Kraft klammerte. Man zog ihn in den Kahn, mit einem „Deo grazia“ fiel er dort auf die Knie und mit einem „Grazia Signore“ bedankte er sich beim Kapitän. Es war ein Matrose der „Linz“, er saß auf der Bordwand und ist rücklings abgestürzt, ein Glück, daß er nicht unter die Propeller kam. Aber es schien, daß ihm das unfreiwillige Bad nicht geschadet hat, denn er war am nächsten Morgen schon wieder fegend an Deck.

Die folgende Nacht war wieder aufregend. Ein gesichtetes Handelsschiff wurde für ein Kriegsschiff gehalten und alles war natürlich auf den Beinen. Dazu sei bemerkt, daß damals die Funkentelegrafie noch nicht allgemein eingeführt war. Unser Schiff hatte keine solche Anlage, eine Verständigung von Schiff zu Schiff gab es nur mittels Flaggen.

Mittwoch, den 5.8.1914 kamen wir ins Mittelmeer, unser Kurs war aber immer nahe der neutralen griechischen Küste. Die Jonischen Inseln durchfuhren wir bei wahrhaft höllischer Hitze. Aber trotzdem war die Fahrt wunderschön, rechts die griechische Küste, links die Inseln. Am Abend wurden die Rettungsboote zum Herablassen vorbereitet und dann ging’s wieder auf’s offene Meer. Wir fuhren mit abgeblendeten Lichtern weiter, denn man fürchtete ein Zusammentreffen mit der französischen Flotte, die im Mittelmeer vermutet wurde. Es war eine milde, herrliche Sommernacht, die See war ruhig, mondbestrahlt und die Matrosen, die italienische Lieder sangen und von einer Ziehharmonika begleitet wurden, erhöhten nur die schöne Stimmung.

Aber die Nacht verlief ohne Zwischenfälle und am Morgen hatten wir schon die Meerenge von Otranto hinter uns, die wir ziemlich in der Mitte durchfuhren. Da tauchte am Horizont ein Schiff auf und wurde später als ein italienisches Torpedoboot erkannt. Und wieder war eine gewaltige Aufregung an Bord, wußte doch niemand, was sich seit unserer Abreise ereignet hatte. Doch auch diesmal war die Angst umsonst, denn als das Kriegsschiff uns erkannte, drehte es ab und verschwand.

In der Adria, die wir weit von der Küste entfernt passierten, begegneten wir der österreichischen Kriegsflotte, es waren die Dreadnaughts, ganz gewaltige Schiffe. Auf deren Aufforderung signalisierte unser Schiff mit ihnen. Vorher, auf der Höhe von Albanien, hörten wir Kanonenschüsse. Prinz Wilhelm von der Wied wurde dort als König von Albanien eingesetzt, konnte sich aber nicht lange behaupten.

Wir umfuhren Istrien, an Pola vorbei, und liefen um 6 Uhr abends in Triest ein. Nach einer ärztlichen Untersuchung wurden wir ausgeschifft.

Nach einer Meldung beim Ergänzungs-Bezirkskommando Triest wurden wir in einer Schule untergebracht. Am nächsten Tag erhielten wir Wiener die Weisung, nach Wien zu unserem Bezirkskommando zu fahren. Uns war das höchst willkommen. Am 8.8. bestiegen wir den 5.Mobilisierungszug und kamen nach 48 stündiger Fahrt in Wien an.

In unserem Waggon waren auch noch zwei Rekruten aus Cospoli und ein Matrose der „Deutschen Orientlinie“. Liebesgaben während der Fahrt bekamen wir genug, aber mit der militärischen Verpflegung war es schlecht bestellt.Von einer Hauptstation zur anderen wurden wir vertröstet und diejenigen, die kein Geld hatten, waren schlecht dran. Vom Südbahnhof aus begleitete ich meine Reisegefährten, die sich in Wien nicht auskannten, zum Nord- und Nordwestbahnhof. Sie fuhren weiter nach Böhmen und Galizien und ich holte dann mein Gepäck und fuhr nach Hause. Papa war daheim und es war ein herzliches Wiedersehen, als ich so unerwartet kam. In Wien gab es dann Laufereien zu den Militärstellen mit dem Resultat, daß ich eine Nachstellung abzuwarten habe. Einige Tage war ich in Weidlingau bei Hansl Mühlndorfer, die Zeit wurde mir aber lang und ich nahm bei Schuckert in Leopoldau meine Arbeit wieder auf.

In dieser Zeit kamen auch unverhofft Emmi und Lina Dont mit Kornmann, dem Kollegen von Cospoli, mit dem Schiff „Karinthia“ nach. Es schien ihnen doch nicht ratsam, in dieser bewegten Zeit unten zu bleiben.

Bei der endlich am 31.8. stattgefundenen Nachstellung wurde ich als vorläufig untauglich befunden und fuhr geschäftlich nach Troppau. Kaum dort angekommen, bekam ich die Einberufung zur Landsturmmusterung für den 2.10., wurde diesmal tauglich, zum Telegrafenregiment eingeteilt und mit einem Einrückungsbefehl für den 26.10 wieder freigestellt.

Um noch einige Tage vor meiner Einrückung zu genießen, kehrte ich schon am 14.10. von Troppau nach Wien zurück und verbrachte in der Zeit sehr schöne Tage mit Gretl Mühlhofer. In dieser Zeit fühlte ich eine Veränderung in meinem Inneren. Ich spürte, daß ich Gretl sehr zugetan bin und diese Zuneigung auch erwidert fand. Ich war damals sehr glücklich und unglücklich zugleich, denn ich war doch mit Lina Dont so gut wie verlobt. Ich war in meinem Inneren zerspalten, konnte aber die Liebe zu Gretel nicht hinwegleugnen.

Wien, 30.Okt.1914

Lieber Robert!

Meinen besten Dank für Ihre Karte. Es freut mich sehr, daß es Ihnen gut geht. Ich denk’ es mir nämlich, sonst wäre der Inhalt Ihrer Karte vielleicht weniger belustigend. Ganz im Gegenteil schreibt Karl, daß es ihm sehr schlecht geht. Er hat sehr viel Arbeit und außerdem hat er keine Aussicht auf einen baldigen Urlaub oder besser gesagt, Ausgang. Seine Adresse ist: Stockerau, Landwehr-Ulanenreg.195, 3.Zug., Neue Kaserne.

Die Karte von Ihrem Kollegen kam zugleich mit ihm. Nun, unsere gestrige Bibelstunde brachte mich wieder auf den Kriegsfuß mit Br.Andos. Er stellte nämlich Theorien auf, deren praktischen Wert ich absolut nicht ausfindig machen kann, noch stimmen sie in irgendwelcher Weise mit unserer Lehre überein. Er spricht von einem x-maligen Erdenleben, das meiner Ansicht nach ganz zwecklos wäre. Näheres mündlich.

Ich habe sehr wenig Zeit, wir haben viel zu tun, habe heute nachmittag schon 11 Blusen genäht. Nun raste ich beim Schreiben, dann werde ich versuchen, wieder weiterzunähen. Die Sonntagsversammlung ist bei Cerny.

Die besten Grüße von allen, ich hoffe, Sie womöglich Sonntag zu sehen.

Es grüßt Sie herzlich

Ihre Gretel

Von einer Zuweisung zum Telegrafenregiment war natürlich keine Rede mehr, ich wurde einfach zum Infanterieregiment No.4, den Deutschmeistern, gesteckt und im Sophiensaal einquartiert. Täglich ging’s nun in den Prater zur Wasserwiese, von ½ 8 bis 11 und von 2 bis 5 Uhr wurde geübt. Unter den Ausgemusterten am 16.11. war auch ich und am 19.11. in aller Frühe ging’s los nach Iglau in Mähren. Bisher waren wir in Zivil. In Iglau, wo das Inf.Reg.81 lag, bekamen wir Monturen, ich wurde zur I.Ers.Komp. eingeteilt und wir wurden in einem Tanzsaal des Gasthauses Trübswasser untergebracht. Täglich bemühte man sich, uns frontreif zu machen. Ich hatte Glück, ich konnte mich als Signalist und später zum Skikurs melden und brauchte bei den gewöhnlichen Übungen nicht mitzutun. Aber trotzdem wurde ich am 13.I.1915 zur Marschkompanie eingeteilt.

Hier folgt eine Tagebuchaufzeichnung eines meiner Kriegskameraden.

15.I.1915, 1 Uhr Mittag.

Feldmesse am Hauptplatz Iglau, Abmarsch unter den Klängen der Regimentsmusik. 11 Uhr nachts Ankunft in Brünn, 2 Stunden Aufenthalt. Es war uns möglich, aus dem Bahnhof zu entkommen und in einem Café ein Nachtmahl zu nehmen.

16.I. Die ganze Nacht gefahren ohne Schlaf. Ankunft in Prerau um 9 Uhr vormittag. Noch immer keine Menage! Brot faßten wir schon auf der Fahrt nach Brünn, hier hatte man Gelegenheit, das Egoistische im Menschen kennenzulernen. In Prerau sahen wir das erste deutsche Militär, 2 Züge Kavallerie. Um 5 Uhr in Oderberg angekommen und endlich gut menagiert. Um 10 Uhr begegneten wir in Drcinic Züge mit Verwundeten und Flüchtlingen und Militärtransporte von der Front, die angeben, nach Serbien zu kommen.

17.I. Krakau. Um 5 Uhr früh hier angekommen, im Waggon unter der Bank geschlafen. Alle haben großen Hunger aber nichts zu essen. Es wird nur Kaffee auf dem Ofen, der nie ausgeht, gekocht. Man sieht schon Befestigungen und Geschütze. Um 9 Uhr früh fahren wir weiter und menagieren in Podgorze-Plasow. Auf der Weiterfahrt bemerkt man schon die Spuren des Krieges. Niedergebrannte und leerstehende Häuser, gesprengte Brücken, zerschossene Wälder, Schützengräben und Gräber, trostlose Gegend. Pioniere, Kinder und Frauen arbeiten auf den Straßen und Bahngeleisen. Auf der Reichsstraße bewegen sich lange Trainkolonnen, Panzerautos, Meldereiter; an großen Lagerplätzen mit Fourage fahren wir vorbei, ober uns hören wir Aeroplane knattern. Zehntausende Konservenbüchsen liegen entlang des Bahnkörpers.

In Bochnia treffen wir wieder mit Transporten Zurückflutender zusammen. Verwundete, Infektionskranke, Feldgendarmen, Krankenschwestern. Den Bahnkörper säumen zerschossene Waggons, ebensolche Feldküchen und Wagen, eine Unmenge Tornister und anderes. Wir aber sind heiter, waschen uns in der Menageschale und vertreiben uns die Zeit des unfreiwilligen Aufenthaltes hinter Bochnia auf unsere Weise.

6 Uhr abends. In der durch die Front bedingte Endstation Brzesko hieß es „Alles aussteigen!“. Es war bereits finster, als wir vom Bahnhof auf eine nahe Wiese geführt wurden, dort Pyramiden ansetzten, Rüstung abhingen und Tee erhielten.

Soweit die Aufzeichnungen meines Kameraden.

Die Stimmung, in der wir uns befanden, änderte sich bei den meisten von uns. Die Dunkelheit, das Geschrei der Trainkutscher, die unbarmherzig die Pferde behandelten, der ferne Kanonendonner, der feurige Schein entfernter Gebäude und alles das auf der Fahrt gesehene drückte uns und ich kann von mir sagen, daß ich nie später, auch in den ärgsten Bedrängnissen, Furcht empfand, aber bei dieser Auswaggonierung hatte ich sie. Und doch war hier von Gefahr keine Rede, da die Front noch etwa 10 km entfernt war. Aber diese Depression dauerte nicht lange. Bald nach dem Abmarsch in eine 2 km weit liegende Stadt hatte wir einen Fund, der uns schon wieder ein wenig aufmunterte. Die meisten der Kolonne machten einen Umweg um zwei Kisten, die mitten auf der Straße lagen. Einige Kameraden in meiner Umgebung aber versuchten mit dem Bajonett mit Erfolg die Kisten zu öffnen und zu unserer Freude war darinnen ein geselchter Speck. Im Nu war dieser an die Umstehenden verteilt und er tat uns als Zubuße später noch in der Front, die wir nach einigen Tagen bezogen, gute Dienste.

Das Haus, welches wir in der Stadt bezogen, war vom Artilleriefeuer arg mitgenommen. Ein eineinhalb Meter großes Loch sorgte für Frischluft. Außerdem war es empfindlich kalt, an ein Schlafen war, trotz Mantel und Decke, nicht zu denken. Frierend suchten wir uns durch Bewegung warmzuhalten, als jemand vorschlug, doch ein Feuer zu machen. Holz wurde bald gefunden, Einrichtungen rücksichtslos demoliert. So ging allerlei Hausgerät in den Flammen auf, darunter auch ein Wagen in Gestalt eines kleinen Autos. Wo mochte wohl das Kind sein, das mit diesem Gefährt spielte!? Diese und manche anderen schwermütigen Gedanken beschäftigten mich, als das Spielzeug Stück für Stück vom Feuer gefressen wurde. Ich äußerte meine Gedanken einem neben mir sitzenden Kameraden. Es war ein „alter“, er ging schon das zweite Mal ins Feld. Er lächelte und sagte: „Na, da mußt du dich gewöhnen, es ist schon so. Manches wird da zerschlagen, ohne daß es notwendig wäre.“ Die zweite Nacht verging in diesem Quartier.

Morgens war Vergatterung. Wir faßten Zucker aus einem jüdischen Geschäft, ob es dabei gerecht zuging?! Dann war Abmarsch. Wir sollten in einem großen Bogen in eine Ortschaft in der Nähe von Tarnow, ca. 50 km entfernt, marschieren. In einer Etappenstation menagierten wir um 4 Uhr nachmittags und sollten in einem Dorf, 5 km weit, übernachten, aber nach langen Irrwegen kamen wir erst um 8 Uhr zu unserer Schlafstätte, einem kleinen Heustadel. Trotz aller Müdigkeit schliefen die meisten schlecht und man war froh, als um 6 Uhr Tagwache war.

Nach dem Kaffee ging der Marsch wieder los. Bei der nächsten Etappe, die wir um 12 Uhr erreichten, blieb unser Train zurück. Als Mittagessen gab’s eine Konserve. Aber hier konnte man sich wieder einmal waschen. In und an dem Bach lagen zwar allerlei schöne Dinge, wie Magen und Gedärme, Hufe und Köpfe von geschlachtetem Vieh, zerbrochene Gewehre, unzählige Patronen, Bajonette und anderes. Ein Aeroplan knatterte über uns.

Zu unserer Ausrüstung sei bei dieser Gelegenheit bemerkt: Unsere Bajonette, Peil-Piken und Spaten waren schon aus der Erzeugung von Kriegsgewinnern. Die Bajonette waren nichts anderes als ein Stück Flacheisen, auf einer Seite messerartig zugefeilt und gekröpft gebogen, damit man sie auf die Gewehre stecken konnte. Die Peil-Piken und Spaten waren aus dermaßen leichtem Material, daß sie bei der ersten Benützung unbrauchbar wurden. So trachtete man, bald in den Besitz von russischen Piken und Spaten zu gelangen.

Um 3 Uhr war Aufbruch, um 6 Uhr abends kamen wir zu unserem Kommando und wurden in Ställen und Scheunen untergebracht. Wir schliefen diesmal gut bis zum Weckruf. Bei der Vorstellung unserer Marschkompanie begrüßte uns der Regimentskommandant Oberstleutnant Sigl mit einer „schönen, einladenden“ Rede. Das erste war, daß er uns mit den Strafen im Feld vertraut machte: Tod durch den Strang, Tod durch Erschießen, Spangen, Anbinden lassen u.s.w. Es war ein ermunternder Empfang.

Nun muß dazu gesagt werden, daß unser Regiment zum Großteil aus Tschechen bestand und sich, man muß die damals bestehende Situation in Betracht ziehen, durch Überlaufen berühmt gemacht hat. Der Panslawismus war in dieser Zeit erstrebt, und hier kämpften Slawen gegen Slawen. Und die Tschechen waren unter den Slawen der Monarchie seit jeher die Nation, die ihre Unabhängigkeit mit allen politischen und unpolitischen Mitteln erreichen wollte.

Wir wurden auf die einzelnen Feldkompanien aufgeteilt und mit einem Korporal und drei Gefreiten meldete ich mich zur I.Kompanie. Von einer Ordonnanz zur Kompanie geführt, übernahm uns der Kommandant, Oberleutnant Badewitz, und teilte uns auf die Züge ein. Erst am nächsten Tag ging’s in die Schwarmlinie, wir lösten dort die 12.Kompanie ab. Die Stellung war gut, nahe beim Dorf Janowitze, die Menage und das Brot kamen regelmäßig, auch bekamen wir Liebesgaben. Infanteriefeuer war keines, aber die Artillerie setzte uns mehr und mehr zu. Gleich am ersten Tag bekam ich meine Feuertaufe.

Ich war als Alarmposten aufgestellt, als ein eigentümliches Geräusch sausend näherkam, und zwar so rasch, daß ich keine Zeit mehr hatte in die Deckung zu kommen, ich stellte mich aber instinktiv hinter einen Baum. Und schon erfolgte ein dumpfer Knall, ein Singen der Sprengstücke, ein Prasseln der herabfallenden Erde und ich wußte wie’s ist, wenn 15 m entfernt eine Granate einschlägt. Die Horchposten wurden eingezogen und der Feind durch die Schießscharten beobachtet. Trotz der Heftigkeit des Feuerangriffes hatten wir nur einen Schwerverletzten und drei Leichtverletzte. Bei diesem schweren Angriff bekam die Kompanie eine belobende Anerkennung.

Bis zum 31.I.1915 blieben wir in dieser Stellung. Feinde bekamen wir nicht zu sehen, sie lagen etwa 2000 Meter weit auf dem gegenüberliegenden Bergabhang. Im dazwischenliegenden Tal wurden sowohl von uns als auch von den Russen Feldwachen aufgestellt.

Auf einer dieser Feldwachen hätte mich und meinen Kameraden bald ein Mißgeschick ereilt. Zwischen den beiden Fronten befanden sich Bauernhäuser, die teilweise noch immer bewohnt waren. Alte Männer, Frauen und Kinder fristeten dort ihr gefährliches Dasein, immer in der Angst, daß von der einen oder der anderen Seite der Angriff erfolgen könnte. Und doch waren diese Leute nicht von ihrer Scholle wegzubringen. In den Häusern waren meist 2 Räume, eine Küche und ein größerer Raum, der gleichzeitig als Schlafraum und im Winter auch als Stall diente. Der Fußboden war halb ausgenommen und da lag eine Kuh oder Ziegen oder andere Haustiere. Gleich daneben war das Bett, wo die Frau mit den Kindern schlief, während der Mann am Ofen oder auf einer Bank lag. Das war das Bild, das wir vorfanden, wenn wir so ein Haus betraten, um uns gegen Tabak einen Tee oder Kaffee kochen zu lassen. Und einmal, eben bei der besagten Feldwache, wollten wir gerade eintreten, als wir drinnen mehrere Russen sprechen hörten. Na, wir machten uns aber, gedeckt durch unsere Schneemäntel, schnell davon.

So verging die Zeit bis zum 31.I., immer 48 Stunden Dienst an der Front, 48 Stunden Reserve, bis wir vom Inf.Reg.61 abgelöst wurden. Ein Gewaltmarsch von eineinhalb Tagen brachte uns über Saclecin zur Bahn nach Brzesko. Dort freute ich mich über die erste Sendung von daheim, eine ganze Tafel Schokolade. In Brzesko einwaggoniert, fuhren wir wieder zurück über Krakau, Oderberg und dann über Teschen, durch das herrliche Gebiet der Hohen Tatra nach Kaschau. Überwältigend war der Anblick der Gipfel der Tatra, die schneebedeckt zum blauen Himmel emporragten. Unsere Menage wurde auf der Fahrt sauer und konnte nicht ausgegeben werden. Das war für uns bitter!

Nach Kaschau waggonierte man uns aus und nach einem einstündigen Marsch kamen wir in eine Ortschaft, wo die Einwohner eben damit beschäftigt waren, ihre Habseligkeiten auf Ochsenwagen zu verpacken um zu flüchten. Es war ein trauriges Bild. Weinend und jammernd bedeckten sie die Erde mit Tränen und Küssen, herzzerreißende Szenen spielten sich ab, aber es nützte nichts, sie mußten zwangsweise fort.

Unser Regiment sollte sofort in die Schwarmlinie, doch konnten wir uns den Weg ersparen, da die Unseren schon in Massen zurückfluteten. So ging’s auch bei uns wieder zurück, wir mußten aber, einige Berge umgehend, abermals nach vorne, als Ersatz zu den vorneliegenden Regimentern. Bis spät in der Nacht waren wir auf den Beinen, ohne auch nur ein paar Minuten ausruhen zu können. Es war der 2.Februar, wir hatten noch immer nichts gegessen und waren furchtbar hungrig. Wir kamen in ein kleines verlassenes Dorf, mußten aber ohne Rast sofort einen Berg hinauf und uns Deckungen bauen. Eine Fleischkonserve befriedigte nicht ganz unsere Mägen.

Kaum waren wir mit unseren Deckungen halbwegs fertig, hieß es wieder „Auf!“ den Berg hinunter, einen anderen hinauf und wieder Deckungen machen. Und nochmals wiederholte es sich, das Stehenlassen, den Berg hinunter, den dritten hinauf. Man wußte augenscheinlich nicht, wo der Feind stand und wir marschierten, in Schwarmlinie aufgelöst bis zur Dämmerung fort, dann wurde Rast gemacht. Den Schnee wegschaufelnd versuchten wir, soweit es unter den Verhältnissen möglich war, ein Nachtlager herzurichten und schliefen auch infolge der Strapazen halbwegs.

Am nächsten Morgen ging’s noch weiter vorwärts, dem Feind entgegen. An Menage war nicht zu denken, in einem Dorf konnte ich eine Konservensuppe kochen, die ich mit einem Gefreiten teilte. Auf dem weiteren Marsch kamen schon einige feindliche Kugeln, wir mußten uns auflösen und in Schwarmlinie eine offene Wiese nehmen. Da kam auch schon Maschinengewehrfeuer, meine erste Infanteriefeuerprobe. Wir durften, in einem kleinen Wäldchen angekommen, kurz rasten und eine Konserve essen, hatten aber kein Brot. Die Konserve war natürlich durch und durch gefroren, aber was tat’s, man aß die Eisstücke, das Fleisch und das erstarrte Fett doch.

Am Abend erreichten wir die Gegend, wo wir die Russen angreifen sollten. Eine russische Feldwache wurde von uns vertrieben. Schritt für Schritt ging es nun vorwärts, das Herz pochte in mir und gewiß auch in anderen, die zum ersten Mal einen Angriff mitmachten. Man konnte jeden Augenblick auf die russische Linie stoßen. Es war schon dunkel, als der Haltebefehl kam und wir uns für die Nacht eingruben. Vor uns sahen wir ein Feuer glimmen, es war das Überbleibsel der russischen Feldwache, ein Stück Brot, eine Decke und einen Spaten fanden wir auch dort. Ich hatte, noch von daheim, festen Spiritus mit und kochte auf meinem Kochapparat, auch von zu Hause, einen heißen Tee, der wohl tat, weil wir von der Kälte ganz erstarrt waren.

Gegen Mitternacht, ich war eben auf Posten, hörte ich ein Knacken und ehe ich die Ursache ergründen konnte, wurde von drüben schon heftig gefeuert. Die Schüsse gingen aber sehr hoch, so daß wir keine Verluste hatten. Nach einer halben Stunde war wieder Ruhe.

Am anderen Morgen aber hatten wir eine furchtbare Tagwache. Noch in der Dämmerung stürmten die Russen und mit heulendem „Hurra Hurra“ stürmten sie heran. Wir feuerten, was nur Platz hatte und bei unserem unmittelbaren Abschnitt auch mit Erfolg, hier mußten sie zurück, aber an anderer Stelle brachen sie durch und wir liefen Gefahr, eingeschlossen zu werden. Wir mußten auch zurück. Es war furchtbar, das Jammern der Verwundeten und Sterbenden zu hören! Die Sanität hatte vollauf zu tun, die Schwerverwundeten noch zurückzuschaffen. Mit unserem Angriff war es vorbei.

Hinter der Reservelinie, welche von Honved besetzt war, sammelten wir uns. Von unserer Kompanie waren 65, von der 2. nur 5 Mann da. Von den drei Bataillonen unseres Regiments fehlten 800 bis 900 Mann. Wir mußten sofort wieder nach vorne zur Verstärkung, kaum einige Meter an der neuen Linie machte der Feind wieder einen Angriff und nochmals ging es zurück. Von allen Seiten kamen die Kugeln und erst ein Dorf gab uns halbwegs Schutz.

Von hier konnte man den Rückzug in seiner ganzen Tragik sehen. Die ganze Straße war von den Zurückflutenden bedeckt, die Wiesen total versumpft. In diese gestaute Menschenmasse schossen die Russen mit Maschinengewehren, wie Fliegen fielen unsere Leute.

Unser Regiment mußte als Rückzugsdeckung zurückbleiben. Es war ein Glück, daß die Russen in der Nacht nicht noch einen Angriff machten, es wäre uns schlecht gegangen, es waren der Unseren so wenig, daß wir vollständig wären aufgerieben worden. Wir lagen in der Stellung, einzeln, 8 m voneinander entfernt. Glücklicherweise wurden wir am nächsten Morgen von einem starken, noch frischen Marschbataillon abgelöst.

Wir kamen zur Kantonierung in ein Dorf und bekamen dort das erste Mal nach 8 Tagen Menage und auch Liebesgaben. Dann folgten Wochen ohne besondere Ereignisse. Einmal mußten wir eine Feldwache auf einer 3 Stunden entfernten Bergspitze stellen, einmal waren wir als Hauptwache, einmal erlebten wir einen kleinen Angriff, aber sonst war nichts los. Wir bekamen regelmäßig zu essen, auch faßten wir sonst gut. Als ich einmal auf Horchposten stand in dieser Zeit, hörte ich ein Rascheln und Knacken und dachte schon, es ginge wieder los. Als ich eben alarmieren wollte, sah ich einen starken Hirsch aus dem Wald kommen. Ich blieb ganz ruhig, er bemerkte mich nicht und ging wieder zurück in den Wald.

Wir waren das Leben im Walde schon sehr gewohnt, das Schlafen unter freiem Himmel, mitunter war morgens eine dicke Schichte Schnee auf der Decke, oder man saß bei Tauwetter wie ein Huhn am Sprissel, die Decke über den Kopf gezogen. Unter einem war Wasser, manchmal die Deckung nach und nach ausfüllend. Es wurde schon wärmer, der Frühling machte sich bemerkbar.

Am 2.III.1915 bezogen wir eine Reservestellung am Duklapaß. Alle 48 Stunden lösten wir das in der Front liegende Regiment ab. Es war wohl die beste Stellung, die wir hatten. Das Ablösen war zwar eine Strapaze, weil wir durch eine tiefe Schlucht und auf dem hartgefrorenen Boden mühsam hinauf mußten, doch sonst bekamen wir regelmäßig unser Essen und die Fassung. Hier bekam ich von Lene Mühlndorfer ein Paket mit Schokolade und ein paar lieben Zeilen, ich freute mich sehr.

Am 5.III. hatte unsere Kompanie an einem Deserteur, einem blutjungen Tschechen, das Urteil zu vollstrecken. Und es fanden sich auch Freiwillige zur Exekution!! Mir war elend. Ich werde an diesen Tag immer denken.

Am 10.III bezogen wir wieder eine andere Stellung, 10 km hinter der Front, und mußten Deckungen bauen, am 18. marschierten wir ins Hinterland zur Bahn. Allgemein hieß es „nach Italien“. Wir freuten uns, aus den Karpathen herauszukommen und einige Tage Ruhe zu haben, aber vorläufig ging’s am Zug vorbei in ein nahes Dorf ins Quartier. Aus der Heimat bekamen wir Verstärkung, eine Marschkompanie, meist Deutsche, viele Wiener. Nachts sollte es zur Bahn gehen, es wurden die Leute auch schon auf die einzelnen Waggons aufgeteilt.

Da war Alarm. Und statt zur Bahn hieß es wieder in die Feuerlinie. Die Stimmung auf diesem Marsch kann man sich vorstellen. Alles fluchte. Der Weg zog sich, es war ein sehr schöner, schon warmer Frühlingstag, ich sagte zu einem Kameraden, der wie ich zurückgeblieben war: „Wir kommen noch früh genug hinauf, jetzt rasten wir uns aus!“ Und wir legten uns in die Sonne unter einen Busch. Als wir dann unserer Kompanie nacheilen wollten, fing uns ein Feldwebel ab uns fragte uns, wohin wir gehören. Auf unsere Antwort, daß wir 81er sind, sagte er, wir sollten mit ihm gehen, als Ordonnanz zum Brigadekommando. Das war nun ein „Schwindel“! Hier konnte man’s aushalten, während es bei unserer Kompanie heiß zuging. Unaufhörlich strömten Verwundete und auch russische Gefangene an unserem Kommando vorbei. Unser Dienst war, Nachrichten und Weisungen von der Brigade zu den Regimentern zu bringen und es war schön, wieder einmal allein zu sein, wenn ein Dienstgang zu erledigen war. Leider dauerte der Dienst nicht lange, nach 8 Tagen mußten wir wieder zu unserer Kompanie. Mein Kamerad und ich sprachen zwar beim Brigadier vor mit der Bitte, ob wir nicht bleiben dürfen, er war auch recht freundlich, konnte uns jedoch unseren Wunsch nicht erfüllen. Also wanderten wir traurig zurück zu unserer Kompanie.

Diese war vorgegangen und als wir ankamen eben damit beschäftigt, neue Schützengräben zu bauen. Da gab es nun viel Arbeit, einmal mußten wir 26 Stunden in voller Rüstung arbeiten, da ein Angriff der Russen jede Minute zu erwarten war. Ein Gutes hatte die Stellung, daß wir regelmäßig unser Essen und unsere Fassungen bekamen, wenn wir auch öfter unter Schrapnellfeuer unsere Menage von der Küche holen mußten.

Es war die Osterwoche 1915. Am 2.April, Karfreitag, ein herrlicher Frühlingstag, wollte ich den Dreck, den man durch die Erdarbeiten an sich hatte, von mir und meinen Kleidern reinigen. Ich ging nahe hinter die Linie an einen Abhang und hängte meinen Mantel an einen Ast, um ihn zu bürsten. Da schlug eine Gewehrkugel dicht neben mir in dem Baum ein. Es war mir wunderlich, daß von schräg-hinten ein Schuß kam, aber gleich darauf schlug ein zweiter knapp neben meinen Füßen in die Erde. Es wurde also direkt auf mich gezielt. Ich packte meinen Mantel und lief in den Graben, da kam auch schon der Befehl „Schießen!“ Auf was wußten wir nicht, da vorne nichts zu sehen war.

Knapp danach wurde mein Nachbar am Halse verwundet, durch einen Göller. Die Wunde war recht arg, ich verband ihn eben, als der Befehl zum Rückzug kam. Alles strömte zurück, ich aber mußte doch den Kameraden, der furchtbar jammerte, fertig verbinden und kam als Letzter aus dem Graben. Der Rückzug war insoferne schwierig, als es über eine freie Wiese ging, die vom Feind mit Maschinengewehrfeuer überstrichen wurde. Und doch war hier die einzige Möglichkeit durchzukommen.

Ich hatte in der kurzen Zeit nicht mehr die Möglichkeit meinen Überschwung, den ich beim Suchen des Verbandpäckchens herunternehmen mußte, umzubinden - in der einen Hand diesen, in der anderen das Gewehr, so rannte - nein, flog ich vielmehr über den steilen Hang, dem Tal und dem Wald zu, der noch ein bißchen Schutz gab. Vor mir, neben mir fielen unsere Leute, meine Kameraden - es war schrecklich!

Was ich damals dachte, was ich für Gefühle hatte, wußte ich danach nicht mehr. Ich spürte nur, daß meine Wickelgamasche an einem Bein immer lockerer wurde und mich am Laufen hinderte. Meine Hände waren nicht frei, an ein Richten war nicht zu denken, so lief ich mit der schlenkernden Gamasche dem Wald zu, den ich mit einigen Kameraden auch glücklich erreichte. Hier endlich konnte ich mich meiner hindernden Gamasche entledigen, ich riß sie einfach herunter und lief mit einer weiter. Ich dürfte ja komisch ausgesehen haben mit dem zerfetzten Hosenbein, ich hatte mir nämlich seinerzeit bei der Fassung der Montur die Hose, die mir viel zu lang war, mit einer Schere gekürzt. Aber hier ging es um die Freiheit!

Wir kamen schließlich in das Tal eines Baches und waren hier schon mehr geschützt, nur hie und da kamen noch Kugeln. Bei uns war auch ein Offiziersdiener mit zwei mit Fressalien vollgepackten Rucksäcken. Wir hatten Hunger aber der Pfeifendeckel hatte Angst vor seinem Herrn und gab nichts ab. So mußten wir uns mit einem anderen Fund zufriedengeben, ein Packpferd des Trains hatte Kaffeekonserven entweder verloren oder man hatte sie weggeworfen, jedenfalls stopften wir damit unsere Mägen. Sie schmeckten sehr trocken, aber sie waren besser als nichts.

Unser schützendes Tal wurde immer offener, bis es sich zwischen freien Talwiesen in ebeneres Gelände auflöste und uns so einen freien Ausblick bot. Jetzt erst wurden wir unserer Situation bewußt. Vor uns, ungefähr einen Kilometer weit, sahen wir unsere Front, von welcher ununterbrochen in der Richtung zu uns geschossen wurde. Wieso, wurde uns schnell klar: wir befanden uns hinter der russischen Linie!

Wir, sechs oder acht Kameraden, sahen nun unser Schicksal, die Gefangenschaft, vor uns. Wir überlegten, was nun zu tun, erinnerten uns, wenigstens die Gewehre unbrauchbar zu machen und warfen die Verschlüsse derselben in die Büsche. Dann bedrängten wir den Offiziersdiener uns doch was zu essen zu geben, da ihm ja die Russen sowieso alles wegnehmen würden. Er teilte aus und gab uns jedem ein Stück Speck und ein halbes Brot. Und da kamen auch schon die Russen auf uns zu, die Gewehre schußbereit auf uns gerichtet. In der einen Hand den Speck, in der anderen das Brot, so wurden wir gefangen.

Wir mußten unsere Rucksäcke entleeren und die Bajonette wegwerfen. Ich hatte im Rucksack eine Rasierseifenbüchse als Nähzeugschachtel. Die Russen vermuteten da etwas Gefährliches, vielleicht eine kleine Handgranate und drei russische Bajonette setzten sich an meine Brust, aber die Spannung legte sich, als nur Zwirn und Knöpfe aus der Büchse aufs Gras rollten.

Das Regiment, das uns gefangen nahm, bestand aus älteren Leuten, die uns nichts wegnahmen und uns auch beim Rücktransport gut behandelten. Wir marschierten den gleichen Weg zurück, von wo wir gekommen sind, unbepackt dem Feindesland zu.

Von links und rechts kamen Gefangene, von Russen geführt. Bald waren 70 bis 80 Mann beisammen. Unsere Verwundeten mußten wir mit zurücknehmen. Ein verwundeter Offizier starb am Transport, wir begruben ihn, ein Russe setzte auf dem Grab ein Kreuz aus Birkenholz. Wir hatten zu tun, aus dem Feuer unserer Artillerie zu kommen. Unsere Begleiter wurden von Kosaken abgelöst, die uns nach einem 10stündigen Gewaltmarsch in ein Dorf brachten, wo wir übernachteten. Hier sahen wir die russischen Reserven, überwältigende Menschenmassen, aber alle ohne Waffen.

Am nächsten Tag hieß es, die Österreicher wären im Vormarsch. Für uns sehr traurig, denn wir mußten an diesem Tage 16 Stunden marschieren. Viele blieben vor Ermattung liegen und die russische Knute sahen wir das erste Mal in Verwendung. An Essen war nicht zu denken, ich ergatterte mir bei einer Kosakenküche eine Suppe. Auch tauschte ich mir für meinen Überschwung 10 Eier ein. Was würde aus uns werden, wenn das Tempo und der Hunger weiter so anhält!

Doch die nächsten Tage waren erträglicher. Wir bekamen regelmäßig, wenn auch nicht viel, zu essen, auch waren die täglichen Märsche nicht so gewaltig, etwa 18 bis 20 km im Tag. Ich hatte schon in der Front gefrorene Zehen durch das anstrengende Marschieren verschlimmerten sich die Füße so sehr, daß mir gestattet wurde, die letzten 13 Tage mit dem Train oder der Bahn nachzufahren.

Es waren etwa 4000 Gefangene, als wir am 15.IV. in Brevorsk einwagoniert wurden, mit dem vorläufigen Ziel Moskau.

Im Waggon war es wieder angenehmer, wir begannen uns langsam mit unserem Los auszusöhnen und uns häuslich einzurichten. Nicht ganz leicht bei 44 Mann im Waggon. In Lublin mußten wir aussteigen und wurden, wahrscheinlich damit die Russen ihre Erfolge an der Front beweisen konnten, kreuz und quer durch die Stadt geführt, ja, wir hatten den Eindruck, daß wir manche Straßen mehrmals passierten.

Dann ging es im Zuge weiter, durch die schneeigen Ebenen bei ziemlicher Kälte. Unser Begleitpersonal sagte uns, wir würden in Moskau frische Wäsche bekommen, wir freuten uns, denn wir waren alle verlaust. In der Front ging es noch an, da wir dort im Freien und in der Kälte waren, aber im warmen Waggon feierten diese Biester wahre Orgien. Suchen nützte nichts, weil weder Platz noch frische Wäsche da war. Wir waren noch so naiv, an die Versprechungen der Russen zu glauben und feuerten noch vor Moskau unsere Unterwäsche samt Inhalt aus den Waggonluken hinaus.

Von Moskau sahen wir nur die Kirchenspitzen, der Bahnhof war weit außerhalb der Stadt. Wir sahen aber auch keine Unterwäsche. Das war bedauerlicher! „Posly, posly“ sagte man uns. Nun saßen wir da, nur die Uniform am bloßen Körper. Ich hatte noch dazu meinen warmen Wollsweater auch weggeworfen, der ein ganzen Läusenest war. Aber ich hätte ihn trotzdem noch gut brauchen können. Ich fror erbärmlich, mit mir alle jene, die gleichfalls ihre Wäsche weggeworfen hatten. Auch hatte mein Mantel ein großes Loch, das ich mir in der Front bei einem Lagerfeuer gebrannt hatte. - So hofften wir halt auf den Frühling.

In Moskau wurden die slawischen Nationen von uns Deutschen und den Ungarn getrennt, die ersteren konnten in Rußland bleiben, während wir nach Sibirien sollten. Ein russischer Offizier, der sehr gut deutsch sprach, sagte uns, der Krieg wäre bald aus, wenn wir in Sibirien ankommen, können wir gleich wieder umkehren. Es war uns dies nur ein schwacher Trost, wir glaubten an ihn nach unserem Vormarsch nicht ganz.

Wir traten also unsere Fahrt nach Sibirien an. Aber nur bis an die sibirische Grenze bis Ekatarinenburg, von da fuhren wir wieder zurück, die Strecke nach Petersburg bis Glasoff im Gouvernement Wjatka. Wir wurden in einer Baracke untergebracht und hier bereuten wir unsere Dummheit, die Unterwäsche voreilig weggeworfen zu haben. Die Nächte waren doch noch kalt und wir mußten ohne Unterlage auf dem nackten Holz der doppelt übereinanderliegenden Pritschen schlafen. Manche waren so verkühlt, teilweise auch krank, daß sie das Wasser nicht halten konnten und nachts gab es manchen Wirbel, wenn der Untenliegende von oben geduscht wurde. In Glasoff gab es ein Spital und ich heilte mir dort meine gefrorenen Zehen.

Dann ging die lange Fahrt los. Es war nun Mai geworden, die Temperatur war schon erträglich und die Füße aus der Waggontür hängenlassend fuhren wir durch die russischen Weiten. Die Stationen waren oft ca. 100 km weit voneinander entfernt, oft war eine Station da, während der Ort, von dem diese den Namen hatte, ringsum nicht zu sehen war. Wir durchfuhren abermals Ekaterinenburg und somit in Sibirien ein. Die Verpflegung war unregelmäßig aber erträglich. Auf allen Stationen waren „Kipjatok“, das waren gemauerte Häuschen mit großen Kesseln, wo ständig Wasser gekocht wurde. Hier konnte sich jeder heißes Wasser für Tee holen.

Bei dem Wasserholen sah man seine Wunder. Während die Russen sich geordnet in einer Schlange anstellten, stürmten unsere Leute, und besonders waren es die Ungarn, zu dem Heißwasserhahn. Jeder wollte als erster seine Menageschale unterhalten, mit dem Resultat, daß es etliche verbrannte Hände gab.

Die Fahrt war jetzt schon angenehmer, denn die Kälte ließ rapid nach, die Gegend war abwechslungsreich. Auch hatten wir uns schon in Glasoff zusammengefunden, so daß zwischen uns ein mehr freundschaftlicheres Verhältnis herrschte. Die Verpflegung war so, daß wir uns wenigstens einmal im Tag anessen konnten. Große Städte wie Tjumen, Omsk, Nowo-Nikolajew, Irkutsk durchfuhren wir und staunten über die Billigkeit der Lebensmittel in Sibirien. 1 Kopeke kostete ein Pfund (40 dkg) Brot, ein ganzes Spanferkel konnte man um 60 Kopeken kaufen. Natürlich, wenn man das Geld dazu hatte. Wir aber konnten diese köstlichen Sachen nur bewundern.

In dieser Zeit verkaufte ich die Kette meiner Uhr für ein paar Kopeken. Wir fuhren nun schon wieder 14 Tage und dachten schon, wir müßten bald an den Stillen Ozean kommen. Wir ahnten ja nicht, wie groß Rußland ist, wir sahen nur an den Kilometersteinen der Bahn, daß wir einen Tausender nach dem anderen abradelten.

Nach Irkutsk teilte sich die gebirgige Landschaft und vor uns breitete sich der Baikalsee aus. Überrascht sahen wir die blaue Fläche, die Ufer waren noch mit Eis bedeckt, im Hintergrund ragten schneebedeckte etwa 2000 m hohe Berge in den azurblauen Himmel, es war ein herrlicher Anblick. Die Breite des Sees ist an 30 km, man sieht gerade noch das andere Ufer, der Länge nach ist er unübersehbar. Die Bahn fährt, bis sie wieder den See verläßt, ca. ein Drittel des Sees am Ufer entlang. Um diesen Umweg zu vermeiden, hat man im russisch-japanischen Krieg über den zugefrorenen See Geleise gelegt und die Truppentransporte darübergeführt. Etliche der Transporte sollen im Eis eingebrochen und mit Mann und Maus versunken sein. Der See ist bei 1500 m tief!

Wir fuhren durch etliche Tunnels 8 Stunden bis zur letzten Station am Baikalsee, wo wir auswaggoniert wurden. Sie hieß Misowaja. Das Lager war, was die Unterkunft anbelangt, nicht schlecht, aber die Verpflegung war schrecklich, kaum genießbar. Wir waren daher froh, als wir nach drei Tagen, am 12.Juni noch weiter nach Osten kamen, nach Werchny-Udings, einem großen Lager. Hier gab es wieder zu essen, als Lagerbewachung waren Kosaken da. Und da kam es oft vor, daß mit der Peitsche die immer hungrigen Ungarn davongejagt wurden, wenn sie bei der Küche um immer noch etwas bettelten. Und die Kosaken hatten recht, denn was diese „Bedjaren“ wie wir sie nannten, trieben, spottete jeder Beschreibung. Ein wenig Stolz kann man auch als Gefangener bewahren, aber was diese Leute für eine hündische Ergebenheit den Russen gegenüber zeigten, war schon ekelhaft. Man muß sich schämen, daß man mit ihnen mit einer Armee ist.

Aber nach abermals drei Tagen hieß es wieder in die Waggons und wir fuhren noch weiter nach Osten. Die Gegend war wunderschönes Bergland mit 800 bis 1000 m hohen felsigen Gipfeln. Das Wetter wurde immer wärmer, so daß wir unsere Nacktheit unter der Montur nicht mehr spürten. Im allgemeinen gewöhnten wir uns an unseren Zustand und fanden auch schon an verschiedenem Gefallen. Nach weiteren paar Tagen Bahnfahrt kamen wir nach Tschitta und erfuhren, daß wir nun endlich hier bleiben sollten. Hier waren etwa 20000 Gefangene auf drei Lager verteilt, in Tschitta, Piestschanka und Antipicha. Und in dem letztgenannten wurde unser Transport untergebracht.

Tschitta ist die Hauptstadt von Transbaikalien, die größte Stadt östlich des Baikalsees. Wir waren erstaunt über das Klima, es hatte eine Hitze bis 40°. Die Umgebung war gebirgig und waldreich. Eine Abart von Edelweiß konnte man auf den Wiesen finden.

Antipicha war kein schlechtes Lager. Wir waren zwar in einem ehemaligen Pferdestall, einer Steinbaracke mit hohen Fenstern untergebracht und es war da so dunkel, daß es einmal vorkam, daß ein Kamerad beim Austeilen der Krautsuppe diese statt in die Menageschale in einen nebenstehenden Patschen goß, aber sonst war’s zum Aushalten. Die Lagerarbeiten waren mäßig und die Witterung warm und schön. Auch bekamen wir endlich eine Garnitur Unterwäsche und es war ein wohliges Gefühl, wieder eine weiche Wäsche am Körper zu spüren statt der schmutzigen und kratzenden Montur.

Es fanden sich auch bald gleichgesinnte Kameraden zusammen, man richtete es sich, soweit möglich, bequemer ein und es war erstaunlich zu sehen, mit welch primitiven Mitteln verschiedene Gebrauchsgegenstände wie Bänke, kleine Tische, ja sogar Musikinstrumente geschaffen wurden.

Unangenehm wurde uns nur, als man uns zur Zeit unserer Offensive den Brotkorb sehr hoch hängte und es wurde von vielen die Gelegenheit begrüßt, auf Arbeit vom Lager fortzukommen.

Und so fuhren wir Anfang August mit einem Personenzug ab, noch weiter nach Osten. Wir fuhren zweieinhalb Tage, 30 Mann im Waggon, bis man uns auf einer Station abkuppelte und stehen ließ. Am Morgen kamen einige Herren in Zivil und fragten uns, als was wir arbeiten können, als Erdarbeiter, Schlosser, Schmiede, Anstreicher oder Hilfsarbeiter. Wir kamen zu einem Baumeister, der den Bau von 4 Maschinenhäusern überhatte. Unser Heim war ein nagelneues Holzhaus, licht und freundlich. Da Sonntag war, wurde nicht gearbeitet und wir wählten aus unseren Reihen einen Kommandanten, einen Feuerwerker aus Przemysl. In die Stadt duften wir nicht, da der Gouverneur zu Besuch da war. Gleich unter unserer Hütte war ein Fluß, sehr fein für unsere und unserer Wäsche Reinigung.

Am nächsten Tag gingen wir um 6 Uhr, normalerweise war um 5 Uhr Arbeitsbeginn, zu unserer Arbeitsstätte. Ich sollte bei den Schlossern arbeiten, aber erst in einigen Tagen, da das Werkzeug noch nicht eingelangt war. Bis dahin sollten wir Schlosser Hilfsdienste leisten. Wir trugen Ziegel, rollten Zementfässer und anderes bis Dienstag Mittag. Da hieß es auf einmal: 20 Mann werden zur Bahn gebraucht. Unglücklicherweise traf das Los auch mich. Sich in das Unvermeidliche zu fügen, hatte man schon gelernt, aber leicht war das nicht. Hatten wir doch liebe Kollegen, eine schöne Unterkunft und gutes Essen. Schon abends fuhren wir mit einem Personenzug 60 km weiter nach Osten. Auf dieser Fahrt trafen wir Gefangene, die auf der Strecke arbeiteten und in der Stadt einkaufen waren. Sie schilderten uns das Leben dort und wir hatten schon genug davon. Um 3 Uhr morgens kamen wir an. Die Station hieß Ujatka, wir übernachteten im Warteraum. In der Früh wurden wir unserem neuen Herrn, dem Bahnmeister, vorgeführt.

Der Bahnmeister übernahm uns und schickte 5 Mann von uns, darunter auch mich, einige Kilometer westlich nach der Station Ortokjö und hier erfuhren wir so recht, was Oberbauarbeit bei der Bahn heißt. Freilich waren unsere Körper nicht richtig ernährt und auch durch das Lagerleben wenig widerstandsfähig, und bei Tee, Brot und Butter täglich 13 Stunden schwer zu arbeiten, das war ein Verlangen, von dem sich der Russe nicht viel erhoffen konnte.

Bei dieser Arbeit war ich das erste Mal im Leben wirklich erschöpft und blieb auf dem Heimweg buchstäblich liegen. Der Weg führte durch sumpfige Wiesen, es waren vielmehr Grasbüschel, umgeben von sumpfigem Erdreich. Es war schon finster, ich stolperte todmüde etliche Male, das Aufstehen war jedesmal eine Pein. Schließlich blieb ich liegen, ich konnte einfach nicht mehr weiter. Die Anderen waren schon weit voraus, jeder hatte mit sich selbst zu tun. Schließlich trieb mich die Kälte der Nacht doch wieder auf, auch war ich schon ein wenig ausgeruht. In der Hütte angekommen, schlief schon alles, man hatte meine Abwesenheit überhaupt nicht bemerkt.

Mir war klar, so konnte es nicht weitergehen. Ich empfand in meinem Rücken ein starkes Stechen, ich dachte, es wären die Lungen. Am nächsten Tag meldete ich mich krank. Das gab es nicht, aber ich bekam leichtere Arbeit. Ich baute mit an einem Backofen.

Ich habe wahrscheinlich in dieser Zeit sehr schlecht ausgesehen, denn als es Abend wurde, rief mich eine Frau und gab mir ein Leinwandbinkerl mit Weißbrot, Zucker und Piroschki. Ich hatte große Freude über das Geschenk. Der Inhalt kam mir sehr gelegen, mehr jedoch freute es mich, daß Jemand mit uns fühlte. Ich konnte mich nicht in russisch bedanken, so sagte ich „merci, Madame“ und hoffte, daß ich verstanden wurde.

Am nächsten Tag sollten wir wieder hinaus. Ich besprach mich mit zweien der Kameraden, denen es auch so schlecht ging und wir vereinbarten, nicht mehr auf die Strecke zu gehen, sollte kommen, was will. Als man uns weckte, sagten wir, wir wären krank und müßten ins Spital. Die Russen wollten davon natürlich nichts wissen, als sie aber unseren Ernst sahen, gingen sie ohne uns Dreien zur Arbeit. So auch am nächsten und am dritten Tag. Wir konnten uns nun daheim ausrasten und waren nur neugierig, wie lange dies so fortgehen würde. Am vierten Tage wurde ein russischer Arbeiter bestimmt, mit uns ins Spital zu fahren. Wir atmeten erleichtert auf und versicherten uns, auf keinen Fall nochmals zurückzukommen.

In Jerifö, wo auch unsere Kameraden waren, gab es ein Spital. Der uns untersuchende Arzt erklärte uns jedoch gesund und sagte, als wir auf unsere Schmerzen hinwiesen, wir wären Simulanten, wir müßten wieder zurück zum Bahnbau, abends ginge der Zug.

Unser Russe hatte in Jerifö Bekannte und sagte uns, wir sollten am Abend am Bahnhof sein. Na gut, du kannst lange warten, sagten wir uns.

Wir verlebten einen angenehmen Nachmittag bei unseren früheren Kameraden, aßen uns tüchtig an und besprachen mit ihnen, was nun zu machen wäre. Man wollte uns so lange verstecken, bis der Zug abgefahren ist.

Als aber der gute Mann, der für uns verantwortlich war, sah, daß wir nicht am Bahnhof waren, kam er in die Baracke und ließ uns suchen. Da mußte schnell gehandelt werden. Der Dritte, ein Ungar, war nicht bei uns, von uns beiden wurde einer mit einem russischen Mantel zugedeckt, ich kroch unter die Pritsche und drückte mich ganz eng an die Wand. Der Feuerwerker als Barackenkommandant versicherte dem Russen von uns nichts zu wissen und versuchte, diesen von unseren Verstecken fernzuhalten. Ich war ja verborgener, da nicht anzunehmen war, daß in dem schmalen Raum unter der Pritsche jemand sein könnte. Und doch wäre ich beinahe entdeckt worden. Einer der Russen hatte einen kleinen Hund mit, der zu mir kam und mich beschnupperte. Ich hätte das Biest am liebsten erwürgt, wenn dies ohne Geräusch hätte geschehen können, aber der Hund war vernünftig und zog ab. Alle atmeten auf, als die Russen die Tür hinter sich schlossen. Der Zug war mittlerweile abgefahren, der Russe mußte in Jerifö übernachten. Was wird nun weiter? Wir wollten uns auf keinen Fall dem Russen zeigen, bevor wir mit dem Natschalnik gesprochen hatten und beschlossen, noch vor Tagesanbruch aufzubrechen und im Wald zu verschwinden. Nach 9 Uhr kamen wir zurück und gingen direkt ins Büro. Unser Russe war auch dort und wäre beinahe vom Stuhl gefallen, als er uns kommen sah. Alle im Büro lachten über sein verdutztes Gesicht. Er hatte schon fürchterliche Angst, denn er hätte uns nach dem Spital nicht allein lassen sollen.

Der Natschalnik sprach deutsch, wir sagten ihm, wir seien als Professionisten aufgenommen worden, wir könnten die schwere Arbeit auf der Bahn nicht leisten und gingen auf keinen Fall wieder hinaus, er wolle so gütig sein und uns für eine andere Arbeit verwenden. Anfangs wollte er davon gar nichts wissen, aber als er sah, daß wir standhaft waren, sagte er uns zu, uns nach dem Lager zurückzuschicken. Bis zum Rücktransport sollten wir Reinigungsarbeiten in der Baracke machen. Wir waren froh, so glimpflich davongekommen zu sein und wanderten glücklich in die Baracke. Aber wie waren wir erstaunt, als am Nachmittag der russische Posten, der die Baracke über hatte, ganz dienstlich mit dem Gewehr zu uns kam und sagte, wir müßten mit ihm kommen. Schon nichts gutes ahnend fragten wir ihn wohin. „Na Katalakscha“, in den Arrest also! Mit unserem bißchen Russisch machten wir dem Soldaten begreiflich, daß der Natschalnik entschieden hätte, wir sollten zurück ins Lager kommen. Aber es nützte nichts, er hatte nur ein „heidi, heidi, skare“ für uns und so schlichen wir wieder einmal enttäuscht mit ihm. Ein leeres Magazin nahe der Baracke war unser Arrest.

Wieder eine neue Situation, ein neues Erlebnis. Der Raum war nicht so schlecht, jedenfalls groß genug für uns Drei. Der Raum war vollkommen leer bis auf ein Brett, ca. eineinhalb Meter lang und 25 cm breit. So saßen wir auf unseren Rucksäcken und dachten nach, was nun kommen kann. Zu dumm, wir hatten uns schon so sehr auf das Gulasch gefreut, das es zum Nachtmahl in der Baracke geben wird. Wir konnten gar nichts zum Essen mitnehmen, läßt man uns doch noch am Abend heraus? Dies war unsere Hoffnung. Aber je mehr es dunkel, schließlich schon finster wurde, desto mehr schwand diese. Auch kalt wurde es schon in unserem Verlies.

Draußen hörten wir, wie die Unseren das Essen holten. Hatte der Russe vielleicht unseren Kameraden verboten uns etwas zu bringen? Die Bande konnte uns doch nicht hungrig in diesem Eiskasten lassen! Wir klopften und pumperten an das Tor, aber ohne Erfolg. Unsere Hoffnung schwand nun ganz dahin, da es draußen schon Nacht war.

Aber da hörten wir plötzlich ganz leise unsere Namen rufen. An der Rückwand des Raumes, beinahe schon an der Decke, war ein kleines Fenster, von dort kam der Schall. Wir antworteten vorsichtig und hörten, wir sollen eine Schnur hinunterlassen. Nun hatte ich noch von alten Birkenrindenschuhen, die wir einmal faßten, die Schnüre, die normal um die Waden gebunden werden. Die reichten gerade aus, wenn man die beiden Schnüre zusammenband. Eine Fensterscheibe mußte zwar dran glauben, aber der Lohn war köstlich. Eine große, lange Menageschale voll Gulasch! In der nächsten Minute saßen wir schon um den Topf und dankten im Geiste unserem netten Kommandanten, der uns nicht vergessen hatte.

Die Nacht war sehr kalt. Auf dem Brett konnte man es eine Zeitlang liegend aushalten, natürlich war es nur für einen. Die anderen erwärmten sich, so weit es möglich war, indem sie im Laufschritt im Kreise herumliefen. Aber auch diese Nacht wurde zum Morgen.

Am nächsten Tag brachte man uns Brot und Butter. Wie wir später erfuhren, soll das der Russe, der Dienst hatte, von seinem Gelde gekauft haben, sonst hätten wir auch an diesem Tage kein Essen bekommen. Nur um unsere Bedürfnisse zu erledigen, durften wir hinaus und auch da nicht mit unsere Leuten reden.

Wieder wurde es Abend, wieder brachten unsere Kameraden im Dunkeln das Essen, wieder führten wir in der Nacht unseren Veitstanz auf. Wie lange sollte es denn so fortgehen? Uns wurde es schon sehr ungemütlich. Aber nichts dauert ewig, am nächsten Tag schon kam die Erlösung.

Im Büro wurde eine Schreibmaschine schadhaft und da man wußte, es sind zwei Professionisten im Arrest, kam man auf den für uns so guten Gedanken, uns für die Reparatur holen zu lassen. Und so öffnete sich das Tor!

Wir reparierten die Schreibmaschine zur allgemeinen Zufriedenheit und bekamen noch obendrein 1,30 Rubel, die die Büroleute für uns sammelten. Das war zu dieser Zeit noch viel Geld, es kostete damals eine Kuh 5 bis 10 Rubel, ein Pferd 15 bis 20 Rubel. Und nun erinnerten sich die Russen, daß ein Schienenauto in kaputtem Zustand schon längere Zeit in einem Schuppen stehe und eine Motordraisine zu reparieren wäre. Sie fragten, ob wir das können. Selbstverständlich bejahten wir. Was hätten wir nicht alles können, nur um nicht wieder eingesperrt zu werden! Und wir brachten es auch zustande und bekamen andere Arbeit. Ich wurde Glaser und Anstreicher. Ich arbeitete mit einem gebürtigen Österreicher aus Pforzheim bis 20.Oktober 1915. Meine beiden Arrestkollegen bekamen andere Arbeit. Mein Arbeitgeber war ein sehr guter Mensch. Er zahlte uns 50 Kopeken pro Tag, das war offiziell, und vom 20. bis 24.Oktober inoffiziell Rubel 1,60. Als wir abfuhren, segnete er uns, beinahe kamen ihm die Tränen, als er das Kreuz über unsere Häupter machte.

Am 24. dampften wir mit dem Personenzug von Jerifö ab. Knapp vor der Abfahrt ereignete sich an diesem Tage ein bedauerlicher Unfall. Ein Kamerad aus Nordböhmen wurde bei der Arbeit von einer nichtexplodierten Dynamitpatrone, auf die er mit dem Krampen schlug, schwer verletzt und büßte dabei ein Auge ein.

Auf der Rückfahrt ins Lager machte ich Bekanntschaft mit einer japanischen Familie. Die Frau war noch jung, aber sehr häßlich, doch war sie sonst sehr lieb. Sie bewirtete mich so gastfreundlich, wie wenn ich zu ihrer Familie gehörte. Es war ein recht schönes Gefühl, wieder einmal richtig verhätschelt zu werden. Wann wird dies zu Hause einmal der Fall sein! Zum Abschied bekam ich vom Mann eine kleine japanische Münze.

Am 26.Oktober kamen wir in Antipicha an und wurden von unseren Kameraden freudig begrüßt. Ich bekam mit großer Freude die erste Post aus der Heimat, zwei Karten von Gretel.

Es begann nun wieder das Lagerleben. Hier hatte sich manches, dank der Gefangenen, verändert. Während unserer Abwesenheit wurde fleißig gearbeitet, es entstanden viele Gewerbe wie Schuster, Schneider, Tischler, Schlosser, Drechsler, Gießer u.s.w. Musikinstrumente, Flöten, Geigen, ja sogar Cellos und Baßgeigen waren vorhanden. Und das alles fertigten die Leute mit einfachen Werkzeugen, man muß sich wirklich über die Kunst der Leute wundern. Es gibt auch schon Konzerte, auch ernste Musik wird da vorgeführt. Dadurch ist manchem die Lage erträglicher. Freilich kommen auch gegenteilige Fälle vor. Vor kurzem wurde ein Korporal aus Wien, dann auch ein Deutsch-Ungar wegen Geistesgestörtheit ins Spital eingeliefert.

Neben den Musikkapellen gibt es auch Gesangsvereine und Gesangsquartette. Ein Zigeunerprimas aus Temesvar dirigiert eine Zigeunerkapelle.

Nach den russischen Zeitungen, die aber nicht verläßlich sind, sollen derzeit Friedensverhandlungen tagen, mit Serbien soll es ganz aus sein, dafür soll sich der Montenegriner rühren. Nun, mit dem werden wir schon fertigwerden.

Im Lager ist jeden Morgen Rapport, abgenommen von unseren eigenen Offizieren, die auch in unserem Lager untergebracht sind. Wir dürfen aber, außer beim Rapport, nicht mit ihnen zusammenkommen. Sie haben weniger Freiheit als wir. Da aber die allgemeine Disziplin bei den Gefangenen schon sehr gesunken ist, soll diese durch die Rapporte der eigenen Offiziere wieder aufgefrischt werden.

Invalide sind auch schon fortgefahren, es heißt, sie werden ausgetauscht, ich habe einem einen Zettel an Papa mitgegeben, mit der Bitte um Geld.

Das Essen im Lager ist im Vergleich zu der Kost, die wir auf Arbeit hatte, schlecht.

Morgens um 7 Uhr wird Tscheiwasser von der Küche geholt. Das ist bei der herrschenden Kälte nicht sehr angenehm, denn ohne ½ bis ¾ stündigem Anstellen geht’s nicht ab. Dann war noch etwas. Das Wasser und auch das Essen wurde in einer Blechschüssel, ähnlich unseren Waschschüsseln geholt. Da es von der Küche bis zur Baracke etwa 120 m sind, muß man schon aufpassen, daß man sich nicht die Finger mit dem siedenden Wasser verbrennt. Und bei Sturm hat man dann meist nur die Hälfte Wasser in der Schüssel. Zu dem Wasser sollen wir Tee und Zucker bekommen, aber es gehörte schon zu den außergewöhnlichen Seltenheiten, wenn dies einmal der Fall ist. Wenn man sich keinen Tee kaufen kann, trinkt man eben das heiße Wasser, im günstigsten Fall hat man noch eine Schnitte Brot vom Vortag. Um 10 Uhr wird Brot gefaßt, 1 1/2 russ.Pfund pro Kopf. Das Brot ist sehr schwarz, aber gut gebacken. Es ernährt uns eigentlich. Mittags wird, wieder im Lavoir, Suppe geholt. Meist ist es eine Kapustasuppe (Krautsuppe), dünn, mit einem gelblich-grünen Öl auf der Oberfläche. Wenn es sehr gut geht, bekommt jeder Man ein Stückchen Fleisch in der Größe einer Zwirnspule. Man hat aber dann doch einen Fleischgeschmack.

Die Russen essen gewöhnlich gemeinsam aus der Schüssel, sie stellen sich rund um diese und langen mit einem hölzernen Löffel, schön einer nach dem andern, mit einer gewissen Disziplin hinein. Wir haben’s uns gleich eingeführt, das Essen auf unsere persönlichen Menageschalen oder Blechdosen zu verteilen.

Nach der Suppe gibt es „Gascha“, das ist entweder gedünstete Hirse oder Buchweizen. Wenn dieser richtig fett ist, schmeckt er nicht schlecht, aber dies kommt höchst selten vor.

Das ist unsere Kost. Tag für Tag. Abends gibt’s wieder Krautsuppe, aber ohne Fleisch, diesmal bestimmt. Das Fett der Abendsuppe hat fatale Ähnlichkeit mit Maschinenöl.

Die russische Zeitung schreibt, daß die Gefangenschaft kein Hindernis für eine Verehelichung in Rußland ist, nur muß sich die Frau entschließen bzw. verpflichten, nach Friedensschluß dem Manne zu folgen. Damit wurde bei uns viel Spaß getrieben.

Auch sonst lassen wir uns die Sorgen nicht über den Kopf wachsen. Wir sind ein „Bandl“, die „Götzendorfer G’moa“ mit einem waschechten Götzendorfer als Bürgermeister (der zugleich unser Schmied ist, er macht uns die Eiseln an die Schuhe), einem Richter, drei Gemeinderäten und einem Schulmeister, der bin ich. Eine Zeit war ich auch Kassier, mußte aber den Posten infolge mangelnder Finanzen aufgeben. Und da haben wir manchmal ein Theater, daß die ganze Umgebung unterhalten wird. Und das ist gut, denn aus dem Spinnen kommt ja doch nichts ’raus.

Nun habe ich schon 11 Karten von Gretel, eine von Mathilde Either, eine von Mizzi Jedlicka. Gretels Schwester hat, wie Fredy sagt, wieder ein liebes Putzerl bekommen. Gott soll ihr’s segnen, da habe ich wieder eines mehr. Gretel schreibt auch, daß in Wien Versammlungen abgehalten werden. Darüber freue ich mich.

In der russischen Zeitung steht, daß es mit Serbien sehr schlecht stehen soll und die Russen singen ein Klagelied über ihren ihnen so teuer gewordenen serbischen Bruder.

Das Lagerleben in Antipicha wickelte sich gleichförmig ab, manchmal mußten wir auf Lagerarbeit, aber dabei wurde nicht viel gemacht, da uns die unbezahlte Arbeit nicht freute. Anfangs Dezember 1915 hieß es, wir sollten in ein anderes Lager kommen. Uns könnte diese Luftveränderung gewiß nicht schaden, die Hauptsache wäre, wir könnten beisammenbleiben. Also wurde gepackt und es ging los.

Die Meinung, daß man uns bei Friedensschluß diesen nicht bekanntgeben würde, weil man fürchtete, daß nun alle gleichzeitig nach Hause wollen, war bei uns allgemein verbreitet und in unserer Sehnsucht klammerten wir uns an dieses Gerücht. Wir dachten, jetzt geht es zur Bahn.

Aber u unserer Enttäuschung ging es weder zur Bahn noch überhaupt weiter fort. Der Marsch ging nur in ein eine halbe Stunde entferntes Lager, nach Piestschanka. Wir kamen in eine schöne lichte Baracke, kein Vergleich mit unserem finsteren Stall in Antipicha. Aber sie war nicht geheizt und bei der herrschenden Kälte von 30 Grad war das für uns nicht angenehm. Freilich wurde sofort Feuer gemacht, aber was hilft dies bei den großen russischen Öfen, die über einen Tag brauchen, bis sie sich halbwegs erwärmen.

Es kam eine arge Nacht. Ich selbst hatte keine Decke, ein Kamerad und ich wickelten uns, vollkommen angezogen, in dessen Decke und erwärmten uns gegenseitig auf diese Weise zur Not.

Drei Tage dauerte es, bis der Raum eine annehmbare Temperatur hatte und als es etwas gemütlich wurde, hieß es ’raus in eine andere, natürlich kalte Baracke. Nun, auch diese Unannehmlichkeit haben wir überwunden und wurden warm.

Hier verlebten wir die ersten Weihnachten in der Gefangenschaft. Wir hatten einen Weihnachtsbaum, jedoch ohne Kerzen, nur mit buntem Papier geschmückt, denn wir waren alle arm. Unser Kameradschaftskommandant schenkte uns einen Krapfen und Erdnüsse. Es freute uns diese kleine Gabe und sie schmeckte zum Tscheiwasser gut.

Im Jänner 1916 brannte unsere Bäckerei ab. Wie der Brand entstand, wußten wir nicht. Man sprach, daß er von den Russen selbst gelegt wurde, zur Verdeckung der Schwindeleien. Das Resultat war, wir bekamen zwei Tage überhaupt kein Brot, und an weiteren sechs Tagen nur die halbe Ration. Da hieß es wieder einmal, den Leibriemen sehr, sehr eng schnallen. Wir fürchteten bei dem Brand nur um unsere Sachen, die vom Roten Kreuz für uns in einer benachbarten Baracke eingelagert waren. Auf diese Sachen warteten wir schon mit Sehnsucht, denn bei den herrschenden Temperaturen hätten wir diese schon sehr nötig gebraucht. Das Thermometer zeigte meist mehr als 30 Grad Kälte, einmal sogar 47°. Wenn man da hinaus muß, laufen alle Metallteile, Knöpfe und dgl. sofort weiß an. Türschnallen ohne Handschuhe anzufassen, ist gefährlich, weil die Haut dran bleibt. Augenbrauen, Bart und Wimpern sind im Nu weiß und man hat Mühe, die Augenlider auseinanderzuhalten. Aber man gewöhnt sich auch daran. Wenn „warme“ Tage waren, so zwischen 20 und 25 Grad unter Null, liefen manche nur in Hemdärmeln hinaus. Auf die Latrine, die ca. 30 Meter von der Baracke entfernt liegt, wird in der Nacht nur mit der Unterhose und mit dem Hemd, so wie man schläft, und nur mit umgehängtem Mantel und den Schuhen gegangen. Man gewöhnte sich eben daran.

Im Feber 1916 kam unsere Baracke in Typhusverdacht und es sollten die anderen Plenys mit uns nicht in Berührung kommen. In anderen Ländern würde dieser Umstand für die Betroffenen nicht angenehm sein. Nicht so in Rußland! Wir waren unter ständiger Bewachung durch russische Posten, doch diese nahmen ihren Dienst nicht so genau, waren die meiste Zeit bei uns und schliefen nachts auch in unserer Baracke. Ja, das Lächerliche an dieser Sache war, daß zur gleichen Zeit vom russischen Lagerkommandanten der Befehl kam, in der Nacht haben zwei Leute von uns vor der Baracke Wache zu halten, weil man aus einem uns nicht bekannten Grunde eine Brandlegung seitens der Russen befürchtete. Auf diese Weise ergab sich der paradoxe Zustand, daß die russischen Typhusposten nachts in unserer Baracke schliefen, von uns aber zwei Leute, ordnungsgemäß mit Holzprügeln bewaffnet, vor der Baracke Wache standen.

Ende April war unsere Quarantäne aus und wir wurden zur Arbeit ausgemustert. In dieser Zeit bekam ich von Olga 15 Rubel. Auch vom schwedischen Roten Kreuz gab es pro Mann 1 Rubel. Ich war wieder reich.

Diesmal ging es wirklich zur Bahn. Natürlich fragen wir unser russisches Begleitpersonal, wohin es gehen, aber niemand konnte oder wollte uns Auskunft geben. Die Fahrtrichtung war nach Westen, das erste Mal ging es vom Lager näher der Heimat zu. Wieder munkelten wir, vielleicht wäre schon Frieden und man würde uns austauschen. Und als uns ein russischer Posten heimlich verriet, es ginge nach Petersburg, da war es für uns klar, daß wir auf dem Heimweg waren.

Die _Fahrt war diesmal rascher als die Hinfahrt im Vorjahr. Mein Tagebuch über diese ging leider verloren. Wir legten im Tag ca. 200 bis 300 km zurück, der Frühling und unsere Hoffnung auf eine Heimkehr gaben uns ein fröhliches Geleite. Wir durchfuhren wieder das schöne Bergland östlich des Bajkalsees, erinnerten uns bei der Durchfahrt an Misowaja, an unsere Hungerei in diesem Lager, wuschen uns Gründlich im Baikalsee und waren froh, daß die Gefangenschaft nun bald ein Ende haben sollte. Den Gefangenen, denen wir begegneten, sagten wir, daß wir bestimmt annehmen, wir fahren nach Hause, denn warum würde man uns vom äußersten Winkel im Osten bis Petersburg zur Arbeit führen, da doch in Rußland genug Gefangene waren.

Unsere Hoffnung wurde dadurch noch bestärkt, daß wir von Omsk nicht die transsibirische Strecke sondern die Strecke nach Petersburg weiterfuhren. Ein Tausender von den zurückgelegten Werst schwand um den anderen. In Rußland gab es schon weniger zu essen, Fischsuppe war schon öfter auf dem Speisezettel, öfter s gab es auch diese nicht mehr, man zahlte uns 25 Kopeken Menagegeld und wir mußten uns an solchen Tagen selbst verpflegen. Die Händler auf den Bahnhöfen machten dann gute Geschäfte. Es kam aber auch vor, daß manche Geschäftsleute ihre Preise dann sofort hinaufsetzten, aber nicht immer hatten sie damit Glück. So verlangte ein Bauer, der mit einem Wagen voll Brot zum Bahnhof kam, um 1 Kopeke pro Pfund mehr als üblich. Ein Gendarm, der dies sah, nahm dem Bauern die ganze Ladung weg und verteilte sie kostenlos an die Gefangenen.

Ich, der ich von Olga im Lager noch das Geld bekam, teilte es mit einem Kameraden und wir ließen es uns auf der Fahrt nicht schlecht gehen.

Die Kilometersteine am Bahnkörper waren nur mehr dreistellig, 500 km, 400 km bis Petersburg. Morgen oder übermorgen müßten wir dort sein, wenn wir die übliche Tagesstrecke zurücklegten. Die Aufregung wuchs von Stunde zu Stunde. Beinahe vier Wochen waren wir unterwegs, täglich war das Thema unsere Heimfahrt, aber jetzt, wo wir schon so nahe unserem vorläufigen Ziel waren, schlugen unsere Herzen noch schneller vor Erwartung. Wie werden wir weiterfahren, per Bahn, per Schiff? Vielleicht schon mit einem deutschen Schiff? Das wird ein Hurrah werden, wenn wir den russischen Boden verlassen! Nur dies waren unsere Gedanken und unser Gesprächsstoff. Die meisten konnten diese Nacht nicht schlafen.

Und - wie war die Wirklichkeit am nächsten Tage? Bis auf 115 km näherten wir uns Petersburg, dann hielten wir auf einer größeren Station, „Swanka“. Unsere Begleitmannschaft, mit der wir schon befreundet waren, da sie schon seit Sibirien mit uns war, wurde abgelöst. Auf unsere Frage, warum, sagte man uns, von hier geht eine Bahn nach Norden nach Murmansk am Eismeer, auf dieser Strecke sollen wir arbeiten. Wir aber glaubten auch das nicht. Nun, so sagten wir uns, die Posten sollen wahrscheinlich nicht wissen, daß wir heimfahren und es war uns dies nur eine Bestärkung unserer Hoffnungen.

Unsere neue Bewachung waren Tscherkessen. Bewaffnet bis an die Zähne mit einem Gewehr, einem gekrümmten Säbel, einem Dolch von ca. 30 cm Länge und einer Peitsche. Sie waren große starke Kerle und machten viel Eindruck auf uns. Sie sprachen wenig russisch, wir konnten uns mit ihnen schlecht verständigen. Um das „wohin“ befragt, zeigten sie nach Norden. Aber wir waren noch immer ungläubig, bis am Nachmittag ein Gefangenentransport von Norden kam. Da wurden wir ernüchtert. Das Los, das uns erwartete, wurde uns in grausamer Wirklichkeit vorgeführt. Der Zug war voll von Kranken, Tsinkakranken (Tsinka = Skorbut) mit blauem Gesicht, zahnlos, die meisten waren nicht mehr fähig, selbst zu gehen - Bilder des Jammers. Die Leute vom Zug schilderten uns die Aussichten bei der Arbeit da oben: „Gesund kommt ihr nimmer zurück, man sagt, daß jede Bahnschwelle ein Gefangenenleben kostet.“

Auch die folgenden Nacht war für viele schlaflos - und doch wie verschieden von der vorigen! Auf Gnade und Ungnade ist der Gefangene preisgegeben! Wie weit war nun wieder das deutsche Schiff!

Am nächsten Tag fuhren wir ab. Nordwärts.

Schon bei der Abfahrt bemerkten wir, daß die Strecke nicht einwandfrei sein kann, denn es gab ein Stoßen und leichtes Schwanken des Waggons. Wir sahen, daß der Bahnkörper aus Sand gebaut war, ja es schien uns, daß die Schienen auf den Schwellen wackelten. Bei den Kurven fürchteten wir jeden Augenblick umzuschmeißen. Die Tscherkessen getrauten sich nicht im Waggon zu fahren, sie kletterten auf das Dach, um im Notfall schnell herunterspringen zu können. Alle 200 bis 300 Meter lagen links oder rechts umgefallene Waggons, die man ruhig, manchmal im Sumpf, liegenließ.

Unser Zug legte höchstens 10 km pro Stunde zurück, in der Nacht standen wir, wir brauchten beinahe 5 Tage, um an unser Ziel zu kommen. Zu essen gab es wenig, das Brot war außerdem schlecht. Kaufen konnte man nichts, da das Gebiet erst durch den Bahnbau neu erschlossen wurde. Alle Gefangenen, die wir auf der Strecke sahen, klagten über die schlechte Kost.

Das Land ist Sumpfland, aber sonst schön mit Waldungen auf flachem Terrain. Wir sahen Auerhähne und Birkhähne. Aber weder die landschaftliche Schönheit noch der schöne warme Mai konnten uns über die erlebte Enttäuschung trösten.

Ganz zerrüttelt kamen wir doch endlich an unseren Arbeitsplatz. Nach der langen Fahrt war es uns recht angenehm, daß wir, ohne Bedeckung, Ausflüge in den Wald machen konnten. Dabei fanden wir Schwämme, darunter eine Morchelsorte, die ein Steirer als eine bekannte, in der Nordsteiermark und im Semmeringgebiet vorkommende kennen wollte. Da wir alle ausgehungert waren, machten wir uns daran, diese zu sammeln. Ohne Salz und Fett wurden sie gekocht und verschlungen. Am andern Morgen waren wir ausnahmslos krank, manche mehr, manche weniger. Ob es nun doch eine nicht eßbare Sorte war, oder unsere Mägen an die schwere Kost nicht gewöhnt, jedenfalls waren wir drei Tage krank und arbeitsunfähig, dabei regnete es draußen in Strömen und in der Baracke tropfte es auf uns, ein trostloser Zustand. Ein Kamerad starb.

Aber, als auch das vorüber war, wurden wir zur Arbeit eingeteilt. Geschwächt vom Hunger und von der Krankheit der letzten Tage sollten wir Sand auf Loren laden, und dies noch dazu im Akkord! Ich erinnerte mich an die Bahnarbeit in Ostsibirien, da war noch ein Lager in der Nähe, aber hier in dem Urwald, hunderte von Kilometern von der nächsten Siedlung entfernt - wie wird es hier noch werden?

In dieser Zeit habe ich mir Notizen gemacht, wie folgt:

Auf einem offenen Bahnwagen, auf der Fahrt zum Weißen Meer, am 21.6.1916.

Wie eine Erlösung kam plötzlich unsere Abfahrt von der Sandgrube. Nach der ersten Arbeitsnacht wurde ich aus meinem bleiernen Schlaf gerüttelt. Vor mir stand ein höherer russischer Offizier, der erfahren hatte, ich wäre Mechaniker und als ich bejahte, mich und 5 andere Kameraden mitnahm, zum Bau einer Telegrafenstrecke weiter im Norden.

So fahren wir in den Tag hinein, froh der Sandarbeit entronnen zu sein. Unser nächstes Ziel soll eine Hafenstadt am Weißen Meer sein.

Unser neuer Chef fährt hinter uns in einem Waggon zweiter Klasse mit Frau und Kind und es war schon die ganze Familie bei uns auf Besuch. Er selbst spricht gut deutsch und er erzählt uns, daß ein deutsches Torpedoboot ein Schiff, auf dem sich Lord Kitchener befand, im Eismeer versenkt hat. Natürlich freute uns diese Nachricht.

Vom Buben, ca. 10 Jahre alt, werden wir verwöhnt, er spricht ein wenig französisch und bringt uns Wurst, Keks und Bonbons.

Wir hatten schon zweimal einen längeren Aufenthalt wegen einer Entgleisung eines vor uns fahrenden Güterzuges.

22.6.1916.

Heute stehen wir schon 8 Stunden wegen zwei entgleister Waggons. Es regnet wie aus Schaffeln und wir können froh sein, in einem Waggon vierter Klasse untergebracht zu sein. Wir lernen einen russischen Telegrafenmonteur kennen (Tschogoleff) und bekommen von ihm Brot, Zucker und Butter. Die Leute sind alle sehr lieb, wir sind nur neugierig, wie die Arbeit aussieht! Auf alle Fälle sind wir sehr froh, dem Sandschippen entgangen zu sein.

23.6.1916, 8 Uhr früh.

Endlich fahren wir ab. Wir standen hier 26 Stunden, nur 9 Werst von unserem Ziel, der Stadt Soroka.

9 Uhr früh.

Es ist erreicht. Wir sind in Soroka, einem netten Fischerdorf am Weißen Meer.

24.6.1916.

Wir bleiben noch bis morgen abend hier und fahren dann mit einem Schiff auf dem Weißen Meer weiter.

Nach dem, was wir bis jetzt erlebt haben, trafen wir es gut. Wir bekommen Brot, Butter, Fleisch und Speck und kochen uns im Freien selbst. Nach den bisherigen Erfahrungen ist unser Chef ein guter Mensch.

Ich schreibe in der zweiten Klasse, sitze auf einer weichgepolsterten Bank, ja wir werden sogar hier im Waggon schlafen. Nach langer, langer Zeit wieder einmal ein weiches Bett. Wir freuen wir uns darauf!

25.6.1916.

Nach einer wohl- und weichverbrachten Nacht fing heute die Arbeit an. Heute ist zwar Sonntag und dies mundet uns nicht, aber da wir noch heute abends abfahren, ist nichts zu machen.

26.6.1916.

Wohl wurde gestern noch abgedampft, aber wir waren noch nicht lange aus dem Hafen, gab’s einen Krach und die Schiffsmaschine war kaputt. Nur gut, daß wir nicht schon auf dem offenen Meer waren. Wir wurden wieder zurück zum Hafen gelotst.

Im Zwischendeck, das zwar mit Decken, Kisten und Rädern zur Hälfte belegt war, richteten wir uns häuslich ein. Wir sollten arbeiten, doch verging die ganze Zeit mit Brotfassen, schon in der Frühe fuhren wir dazu zur Bahnstation. Wir fuhren in einem Boot, da unser Schiff nicht direkt am Ufer verankert war. Die Boote werden hier durchwegs von Fischermädeln gefahren, oft noch halbe Kinder. Die Einwohner dieser Gegend sind nicht Russen sondern Karelier, meist blond mit blauen Augen und leben vom Fischfang. Die Häuser sind aus Holz und sehr rein, wir hatten beim Brotkauf Gelegenheit, in einige der Wohnungen zu kommen.

Am Abend bekommen wir von „unserem“ Buben Dimi Fische, die in Butter gebraten werden.

27.6.1916

Heute früh werden wir vom Getrampel russischer Soldaten geweckt. Sie wurden gerufen, um den Draht für die Telegrafenleitung, der sich auf unserem Schiff befindet, auf einen Schlepper zu verladen. Wir helfen mit und sind bis Mittag fertig. Am Nachmittag bekommen wir Wäsche, Stiefel und eine Menge Werkzeuge.

Dann fuhren wir zu einem anderen Schiff. Es scheint, die Schiffsmaschine ist doch nicht so leicht zu reparieren. Das andere Schiff heiß „Anna“ und liegt ca. 2 Werst von uns entfernt. Ein etwa 17 jähriges Mädel führt uns, eine hübsche Brünette mit blauen Augen und einem lieben Gesicht. Sie arbeitet mit den Rudern gegen den Wind und den leichten Regen und man sieht, es ist eine große Plage, vier Personen mit Gepäck, das Boot und sich selbst durch die Wellen zu bringen. Wir machen ihr den Vorschlag selbst zu rudern, sie solle nur steuern, aber zweifelnd gibt sie erst bei der zweiten Aufforderung nach.

Mein Kamerad Urban und ich setzten uns an die Ruder, wir nehmen jeder eines und nach ein paar Schlägen mit viel Gespritz kamen wir ins Geleise. Es ging natürlich dann schneller.

Unser „Steuermann“ saß uns nun gegenüber, ein kleines Steuerruder in den Händen. Die Kleider waren vom Regen und vielleicht auch von der Anstrengung durchnäßt und klebten dem Mädel am Körper, so daß ihre zarten Formen sichtbar wurden. Ich mußte diese Gestalt immer ansehen, den lieblichen Mund, die hellen Augen, es war mir, als wenn sie von einer anderen Welt wäre. Wie war doch die Welt der Gefangenschaft, die wir nun schon eineinhalb Jahre lebten, so anders, immer nur unter uns, die schönsten Jahre unseres Lebens. Und nun sitzt man mit einem so holden Kind in einem Kahn, unsere Füße berührten einander, wenn sie die ihren beim Steuern öfters ausstreckte. Sie aber war ganz bei ihrem Beruf und schien uns überhaupt nicht zu sehen, ihr Blick ging über unsere Köpfe hinweg dem Schiff zu, das nun doch immer näher kam. Nicht lange und ach dieses liebe Bild wird vergehen, fast wollte ich, daß wir langsamer fahren sollten. Oh Heimat, wie bist du so ferne!

28.6.1916.

Wir sind auf offenem Meer. Unser Schiff schwankt wie eine Schaukel, mein Magen beklagt sich schon darüber. Trotz des starken Windes scheint die strahlende Sonne, die hier schon nicht mehr ganz unter dem Horizont untergeht.Wir sind bereits im Land der Mitternachtssonne. Seltsam, immer Licht, Tag und Nacht.

Kreidebleich läuft unser Partieführer auf Deck umher, oft ein einsames Plätzchen aufsuchend. Auch der Natschalnik und seine Frau spüren schon den Wellengang. Am tüchtigsten ist der kleine Dimi, er ist noch immer der liebe Kerl und bringt uns alles, wenn wir nur ein wenig Erwähnung tun. Er spricht auch ein bißchen Deutsch.

Zu unserem Gaudium kommt hie und da eine Welle über Deck und überschwemmt uns, mancher wird wie ein Pudel begossen. Aber es ist nicht kalt und so machen wir uns nichts draus. Das Leben ist wieder schön, es könnte ruhig so weitergehen, ohne Bedeckung, wie ein Familienmitglied zu reisen.

29.6.1916.

Am Morgen befinden wir uns zwischen Bergen, noch immer in Fahrt. Das Meer ist hier ruhig und schön blau. Alles drängt zur Sonne, das Aussehen der Fahrgäste wird wieder normal. Mittags legen wir an. Der Ort heißt „Tschuppa pristan“ und besteht erst seit ein paar Monaten. In den sieben Baracken wohnen russische Ingenieure, Beamte und Arbeiter und auch Kriegsgefangene. Wir fangen zu arbeiten an und messen eine Telegrafenlinie vom Hafen zur werdenden Bahnstation aus. Für unsere Unterkunft ist in den Baracken kein Platz, daher bauen wir uns ein Zelt. Wieder eine neue Situation!

30.6.1916.

Wir erfahren, daß unsere Arbeit die Herstellung einer Leitung vom 6o km Länge in südlicher Richtung nach Soroka sein wird. Wir empfangen Lebensmittel und richten uns das Werkzeug vor.

1.7.1916.

Unsere Bagage wird auf drei Schlitten, jetzt im Sommer, geladen und die 4 Werst zur Station geführt. Es war eine Teufelsfahrt. Kamerad Strausky macht mit seinem Gefährt einige Male Salto. Wenn das mit unseren Pferden gemacht werden würde, was würde da der Tierschutzverein sagen! Auf der Station wartet schon unser Linienchef, Kontrollmechanik Kurkin. Er verspricht uns für die Arbeit einen Rubel pro Tag. Unweit der Station schlagen wir wieder unser Zelt auf.

2.7.1916.

Es ist Sonntag, wir müssen aber arbeiten und legen die 4-Werst-Strecke vom Bahnhof zum Hafen, dann erst kommt die Hauptstrecke dran.

3.7.1916.

Heute hatten Kamerad Baumgartner und ich eine Spezialarbeit. Wir montieren auf einer kleinen Insel eine Blitzableiteranlage. In dem betreffenden Magazin waren 150 Pud (ca.2400 kg) Dynamit eingelagert. Als wir auf dem Dach saßen, juckte es uns, die herumstehenden Russen zu schrecken. Wir schlugen mit unseren Hämmern am Dach mutwillig herum, daß es nur so hallte. Die Russen riefen uns erschreckt zu, wir sollten doch vorsichtig sein. „Ah nitschewo!“ riefen wir zurück, „mehr als daß die Insel in die Luft fliegt, kann nicht passieren!“ Die Russen verkrochen sich bis in die entferntesten Winkel und waren froh, als wir mit dem Kahn wieder abfuhren. Daß man uns diese Arbeit allein machen ließ, zeigt doch von einem gewissen Vertrauen uns gegenüber.

4.7.1916.

Wir arbeiten an der Leitung von Tschuppa nach Süden und sehen, daß sich unser Aufseher die Arbeit nicht einteilen kann. Bis auf einen Mann, der ein fleißiger und guter Arbeiter zu sein scheint, arbeiten die Russen beinahe gar nichts. Wir schlagen dem Aufseher vor, anstatt der Russen Kriegsgefangene zu nehmen. Es will das auch machen.

Tertsch, einer von den Unseren, hat das Kochen übernommen und wir haben ein tadelloses Essen.

Bei der Arbeit ist es beinahe unerträglich heiß, kein Wunder, es scheint auch Tag und Nacht die Sonne.

5.7.1916.

Wir vereinbaren, nachts zu arbeiten, wir hoffen, daß es dann doch kühler ist und fangen um 6 Uhr abends an. Der Aufseher verlangt von uns Überstunden, das ärgert uns, denn bei vernünftiger Einteilung wären diese nicht notwendig.

Die Mückenplage ist hier schrecklich, scharenweise kommen diese aus den Moospolstern, die beinahe ganz den Sumpfboden bedecken. Wie ein Schwarm kommt’s aus diesen heraus, wenn man drauftritt. Wir tragen Moskitohüte, diese aber haben wieder den Nachteil, daß sie sehr heiß sind.

7.7.1916.

Der Aufseher verlangt von uns Taglöhnerarbeiten, Umhauen von Bäumen, Masten herrichten und aufstellen und dergleichen. Es herrscht zwischen ihm und uns eine Spannung.

8.7.1916.

Wegen der Mückenplage wird wieder bei Tag gearbeitet. Diese Woche verlegten wir 8 Werst, eine lächerliche Leistung.

9.7.1916.

Heute, Sonntag, wird wieder Arbeit verlangt. Wir machen sie widerwillig, die Spannung verstärkt sich.

10.7.1916.

Der Krach ist da. Wir sagen dem Aufseher, daß wir in Hinkunft nur jene Arbeit machen werden, zu der wir aufgenommen sind, also Professionistenarbeit. Er stimmt zu, wenn auch mit Unwillen.

11.7.1916.

Gestern wurde Tabak gefaßt, wir bekamen aber keinen und vermuten, daß sich die Russen unseren behalten haben. Unsere Raucher sind darüber sehr erbost.

12.7.1916.

Feiertag.

13.7.1916.

Es regnet den ganzen Tag, als es abends ein wenig nachläßt, arbeiten wir von 6 Uhr bis 12 Uhr nachts.

14.7.1916.

Nach verschiedenen Debatten über die Arbeitseinteilung ist der Bruch ein vollständiger. Wir verlangen, nach Tschuppa zurückgebracht zu werden.

15.7.1916.

Wir wandern nach Tschuppa in Begleitung eines Russen (Gregori) und erzählen der zuständigen Stelle unser Leid. Dort wurden die von uns angeführten Gründe auch anerkannt und wir sollen im Ort für Arbeiten verwendet werden. Der örtliche Natschalnik ist krank und wir sollen warten.

16.7.1916.

Noch nichts Sicheres, es geht uns gut, wir bekommen Lebensmittel, das Essen wird gemeinsam mit den anderen Gefangenen gekocht. Auch haben wir Quartier in der Baracke der Österreicher.

18.7.1916.

Es wurde entschieden, daß wir von der Meisterei in Tschuppa übernommen werden. Ich soll als Elektromonteur arbeiten.

Aber bald nach dieser Entscheidung kam es anders! Unglücklicherweise kam am Abend der Offizier, der uns in der Sandgrube aufgenommen hat, mit einem Schiff. Er machte, als er hörte, daß wir von der Meisterei übernommen sind, sofort alles rückgängig und versprach uns, den Aufseher abzusetzen und uns allein arbeiten zu lassen.

19.7.1916.

Der Offizier reitet heute selbst auf die Strecke zur Partie hinaus. Ein Russe verrät uns, daß wir wieder auf die Strecke sollen. Noch zu später Stunde gehen wir aufs Schiff und sagen dort, wir wollen unter keinen Umständen auf der Strecke arbeiten. Nun wird er wild. Er ruft Tscherkessen und zwingt uns, unter ihrer Bewachung noch in derselben Nacht 300 Bund Leitungsdraht, der von einem Schiffsuntergang gehoben wurde und furchtbar durcheinander ist, in Ordnung zu bringen und zusammenzubinden. Heute zeigte er uns, wer der Stärkere ist.

20.7.1916.

Mit Tscherkessenbewachung müssen wir heute auf der Verbindungsstrecke zwischen Hafen und Bahnstrecke arbeiten. Am Nachmittag aber war es dem Kerl schon zu dumm, wir sahen ihn nicht mehr und machten allein, auch ohne Russen, unsere Arbeit. Das Essen kochten uns die Plenys in der Baracke mit.

21.7.1916.

Wir sind uns selbst überlassen und arbeiten wie gestern.

22.7.1916.

Mit List und allerlei Versprechungen brachte man uns heute wieder auf die Linie. Wir wollten uns erkundigen, ob man uns zwingen kann, auf die Linie zu gehen, und bei unserer Abwesenheit bei der Gendarmerie lud man unser Gepäck einfach auf einen Wagen und fuhr los. Bei unserer Rückkehr trafen wir Kurkin mit dem Gefährt auf halbem Weg. Er war äußerst freundlich und bat uns, ihm doch keine Schwierigkeiten zu machen, es wären nur 20 Werst Leitungen zu verlegen, dann würden wir nach Kandalakscha kommen, wo wir Kleider für den Winter und auch unser Geld erhalten.

Was war da zu machen? Man ist eben Gefangener und den Russen ausgeliefert. Also kamen wir abends wieder bei unseren Russen an und quartieren uns am Dachboden einer Baracke ein (Punkt 305).

24.7.1916.

Kurkin bleibt bei uns und wir lernen ihn näher kennen. Er hat eine ganz närrische Art. Mit uns ist er immer freundlich und liebenswürdig, sogar höflich, aber gegen die Russen ist er fürchterlich. Mit Tod und Teufel, ja mit Erschießen droht er, aber es scheint, dies ist die richtige Art. Es geht vorwärts und wir machen bis 6 Uhr 5 Werst.

Kurkin ersucht uns in aller Form, wir möchten noch bis 10 Uhr weiterarbeiten, er verspricht uns 2 Rubel pro Tag, die Arbeit wäre dringend.

25.7.1916.

Wir arbeiten gut weiter, bis auf einen kleinen Wirbel wegen des Essens. Wir übersiedeln in eine Baracke, wo Österreicher sind.

29.7.1916.

An den Vortagen gab es nichts Neues. Heute beendigen wir unsere vorläufige Arbeit. Um Mitternacht trafen wir mit der uns entgegenarbeitenden Partie zusammen. Es sind nur Russen, sie machen auf uns einen guten Eindruck. Bei ihren Zelten trinken wir Tschei und feiern das Zusammentreffen. Erst gegen 6 Uhr morgens kommen wir bei unserer Baracke an.

30.7.1916.

Der heutige Sonntag verging mit Schlafen. Tertsch kocht herrliche Fleischknödel, 9 an der Zahl pro Kopf. Dazu hatte er amerikanisches Büchsenfleisch. Es gibt hier überhaupt viel amerikanische Lebensmittel.

1.8.1916.

Gestern fuhren wir per Wagen mit unseren Sachen zurück nach Tschuppa. Heute geht es mit einem kleinen Dampfer 10 Uhr nach Kofta ab. Es sind bis dahin 120 Seemeilen.

2.8.1916.

Um Mittag langen wir hier in Kofta an. Es ist eine sehr kleine Hafenstadt zwischen den Inseln des Weißen Meeres mit vielleicht 1000 Einwohnern. Wieder sehen wir nette Häuschen mit weiblichen Wesen.

Hier sollen wir erfahren, wohin unser Kurs geht. Wahrscheinlich nordwärts nach Kandalakscha.

3. und 4.8.1916.

Wir lassen es uns hier gut gehen und baden, aber das Wasser ist sehr kalt. Ich denke an das herrliche Baden im Marmarameer.

5.8.1916.

Nachmittags 2 Uhr nimmt uns ein Boot auf und bringt uns 7 Werst zu einem Anlegeplatz. Auf der Fahrt durch seichtes Wasser sehen wir auf dem Meeresgrund Seesterne, Seeigel und anderes Getier. Nach der Ankunft wird unser Gepäck auf einen Wagen geladen und wir marschieren zu Fuß nach einer werdenden Bahnstation auf der Hauptlinie.

Wieder enden meine Tagebuchaufzeichnungen, also weiter aus dem Gedächtnis.

Von Kofta arbeiteten wir weiter nordwärts bis Kandalakscha und legten den ersten Draht, bis wir mit einer anderen Gruppe, die uns entgegenarbeitete, zusammentrafen. Es waren auch Kriegsgefangene, meist Ungarn.

Kandalakscha ist eine großes, nettes Dorf, beiderseits eines ziemlich breiten Flusses. Zwei Kirchen geben dem Ort schon ein gewissen Ansehen. Und besonders für uns ist wichtig, daß es ein ständiges Postamt gibt. Hier hatten wir also doch mehr Aussicht, Nachricht aus der Heimat zu bekommen. Bis jetzt hatten wir nur spärlich Post bekommen.

Wir bekamen wirklich unsere Winterausrüstung und auch unseren Verdienst ausbezahlt. In den Geschäften, die es in Kandalakscha gab, konnten wir nun manches einkaufen.

Hier gab es auch eine Bahnverbindung nach dem Eismeer, nach Murmansk. Die Bahn wurde schon im Vorjahr (1915) gebaut, sie ist auch im Winter die einzige Verbindung, Lebensmittel zuzuführen. Das Weiße Meer gefriert in den Buchten von Oktober bis Mai, so daß die Schiffahrt eingestellt ist. Zwei Tage blieben wir dort, dann rüsteten wir uns für die kommende Arbeit. Wir hatten die Verlegung der zweiten Telegrafenleitung nach Keret, 220 Werst (ca.240 km) von Kandalakscha in südlicher Richtung zu machen.

Diese Arbeit ging gut voran. Wir bekamen einen neuen russischen Aufseher, Schawaroff, der sich im Laufe der gemeinsamen Arbeiten als ein sehr guter Mensch mit viel Verständnis für unsere Lage erwies und außerdem ein sehr guter Sänger war. Ich erinnere mich an manchen romantischen Abend, wenn wir an einem See oder im Urwald singend vor einem mächtigen Lagerfeuer zusammensaßen. Holz gab es ja genug in dieser Gegend. Solange die Witterung es zuließ, kampierten wir im Zelt, später übernachteten wir in nahen Baracken. Dann war es manchmal recht weit zu unserem wandernden Arbeitsplatz.

Nach Beendigung der zweiten Leitung mußten wir die 125 km zu Fuß nach Kandalakscha marschieren, da es hieß, ein deutsches Unterseeboot sei im Weißen Meer und hätte Minen ausgelegt; daher wurde der Schiffsverkehr eingestellt. Unser Gepäck wurde mit Wagen nachgefahren. Meinen Geburtstag feierte ich allein in Tschemtschuschnaja.

In Kandalakscha bezogen wir eine sehr schöne Baracke. Hier konnten wir uns ausrasten. Arbeit war nicht viel, das Essen ausreichend.

Ende Oktober ging der erste Zug von Kandalakscha nach Kem. Mit der Murmanbahn soll es folgende Bewandtnis haben: Die Bahn als strategische Linie war schon lange fertig, jedoch nur auf dem Papier. In Wirklichkeit waren die Kosten dafür irgendwie verronnen, so daß erst nach dem Beginn des Weltkriegs mit dem Bau begonnen wurde. 1915 wurden die Strecken Swanka-Kem und Kandalakscha-Murmansk, 1916 die Strecke Kem-Kandalakscha gebaut. Durch die Kriegserklärung Rumäniens an die Mittelmächte wurde die Bahn für den Transport von Kriegsmaterial von Murmansk nach Rumänien äußerst wichtig. Da aber der Oberbau an allen Stellen noch nicht fest genug war, wartete man den Frost ab, legte auf den hartgefrorenen Boden oder über Sümpfe Schwellen und Schienen und schon fuhren die Züge über den eingefrorenen Bahnkörper. An den Lasten, ganz große Kisten mit Aufschriften, sahen wir, daß die Sendungen nach Rumänien gingen.

Die Weihnachten kamen, sie waren viel, viel schöner als die 1915 im Lager. Wir hatten durch unseren Verdienst die Möglichkeit, Keks und Zuckerln zu kaufen, auch Kakao gab’s, wenn auch nur mit Wasser eingekocht, denn Milch war nicht zu bekommen. Ein kleiner Christbaum wurde behängt und mit Buntpapier aufgeputzt, auch Kerzen gab es, mit Draht befestigt. Abends wurden Lieder gesungen und auch an der Natur konnten wir uns freuen, denn draußen war ein herrliches Nordlicht mit wunderbar prächtigen Farben.

Als ich den Baum aus dem Walde holte, machte ich mir eine Andachtsfeier. Es war etwa drei Uhr nachmittag, als ich loszog, die Sterne blinkten so wunderschön vom lichtblauen Himmel und mutterseelenallein stapfte ich durch den Schnee. Die Hände fest in den Taschen, eingewickelt in Pelz, die Haube fest unterm Kinn, war mir innerlich so warm und so feierlich. Ich kniete nieder und verrichtete so meine Andacht. Und dachte der früheren Weihnachten, an die der Kindheit, an Weihnachten 1912 im Spital, 1913 bei Donts, aber auch an die in Iglau und Antipicha und hoffte, die nächsten schon in der Heimat zu sein.

Nach Weihnachten schieden zwei von den 6 Kameraden von uns, die ursprünglich von der Sandgrube den Stamm der Gruppe bildeten. Es waren Strausky und Urban. Sie wurden als krank abgeschrieben und fuhren am 31.Dezember ab. Am gleichen Tag übersiedelten wir von Kandalakscha nach Punkt 5, etwa 4 Werst südlich. Einen Monat arbeitete ich dort und kam nachher wieder in die Meisterei nach Kandalakscha Auf dem Weg dahin hatte ich ein sehr trauriges Erlebnis.

Im Winter führten über das zugefrorene Meer regelrechte Straßen, meist waren es gewaltige Abkürzungen gegenüber den Wegen, die entlang der Bahn waren. Sie waren durch Stecken oder Äste abgesteckt. Vom Ufer zum Eis waren lange Holzbrücken, denn durch die Gezeiten gab es am Ufer oft drei bis vier Meter hohe Eisgeschiebe. Der Übergang mußte auch täglich in Ordnung gebracht werden. Ich ging daher von Punkt 5 über das Eis nach Kandalakscha Es war etwa 10 Uhr und es dämmerte schon als ich wegging und mitten am Eis bemerkte ich einen dunklen Punkt. Ich wußte, in dieser Gegend wurden Wölfe noch nicht gesehen, doch waren Bären hie und da erlegt worden. Ich hatte nur ein lächerliches finnisches Messer bei mir und mir wurde unbehaglich zu Mute, umso mehr als ich beim Näherkommen bemerkte, dieses Etwas bewegte sich. Ich überlegte was tun? Bereits dreiviertel des Weges hatte ich hinter mir, vor mir sah ich schon ganz nahe Kandalakscha. Auch zweifelte ich daran, daß sich ein Bär so weit auf das Meer wagt und fand keinen Grund dafür, umso mehr da die Bären in der Regel Winterschlaf halten.

Ich ging also, wenn auch mit heftigem Herzklopfen, weiter. Nach ein paar hundert Schritten sah ich, es ist ein Mensch, der auf dem Schnee sitzt, bei vielleicht 30° Kälte! Ich lief rasch zu ihm, es war ein Finne, ich konnte mich mit ihm nicht verständigen, aber er deutete, seine Füße wären erfroren. Er versuchte aufzustehen und legte seinen Arm um meine Schultern, doch war es auch so nicht möglich, mit ihm weiterzukommen. Der Mann war eineinhalb Köpfe größer als ich, er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Es blieb mir also nichts übrig, als schnell nach Kandalakscha zu eilen und Leute zu verständigen. Doch dauerte es über eine Stunde bis ein Schlitten und Pferde aufzutreiben waren und als sie hinausfuhren, war es bereits zu spät. Er war tot.

Nach den Arbeiten in der Meisterei legte unsere Gruppe den dritten Draht auf die Leitung und war Ende Februar fertig. Wir wurden ausbezahlt und, da alle Russen auf Urlaub fuhren, bis April an eine Meisterei auf Punkt 2 übergeben. Auch hier war für uns eine schöne ruhige Zeit. Ich arbeitete mit Baumgartner auf Blechöfen.

Am 25.März 1917 bekam ich die erste Post von daheim, 2 Karten von Gretel.

Ende April montierten wir den 4. und letzten Draht. Angefangen wurde bei Punkt 6. Hier führte ein etwa eineinhalb Werst langer Sanddamm durch eine Meerenge, der beim Bau manches Opfer forderte. Besonders Ebbe und Flut machten dabei große Schwierigkeiten, da der Sand immer wieder weggeschwemmt wurde. Der Unterbau wurde dann aus Stein gemacht. Wir arbeiten außer Schabaroff mit 4 Russen zusammen und es ging auch 14 Tage ganz leidlich. Nachdem wir aber nach Kofta kamen, machten die Russen so horrende Ansprüche (es war ja schon nach der Revolution) in puncto Bezahlung und Arbeitszeit, daß sich unser Kontrollor Kurkin entschloß, nur mit Gefangenen zu arbeiten. So bekamen wir in den ersten Tagen des Mai drei Reichsdeutsche und 14 Tage darauf weitere drei Mann

Der Erste Mai wurde von den Russen als sozialer Feiertag gefeiert, obwohl nach dem russischen Kalender erst der 18.April war.

Während dieser Zeit mußte Schabaroff nach Kandalakscha, seine Frau hatte ein Knäblein bekommen und wir bekamen statt ihm einen anderen Aufseher. Aber wir sahen diesen nicht oft auf der Strecke, meist schlief er in der Baracke oder im Zelt. So arbeiteten wir die ganze Zeit allein. Dies war kein Nachteil für die Arbeit, es ging recht gut vorwärts, Ende Mai beendeten wir in Polarni Kruk die vierte Leitung.

Unter dem neuen Aufseher hatten wir in den letzten Wochen ein fabelhaftes Essen. Er faßte in den verschiedenen Magazinen alles was wir ihm angaben, ja es kam so weit, daß wir ihm weismachten, wir hätten daheim nur Weißbrot und wir bekamen auch nur solches, und in Mengen, wir konnten es gar nicht aufessen und verfütterten es insgeheim an unsere Pferde. Auch Zucker und Tee erhielten wir, wir konnten uns Vorräte davon anlegen. Und so etwas war in Rußland immer gut, denn wer wußte, was die nächste Zeit bringen würde?! Oft fragten wir uns, ob es unseren Leuten daheim auch so gut geht?

Bis 10.Juni 1917 führte Kurkin das Regiment, dann wurde der Telegrafendienst den offiziellen Stellen übergeben. Der neue Chef war im Majorsrang und nannte sich Kontrollmechanik Mawrikin. Da Schabaroff wußte, ich verstehe was von Telefon- und Telegrafenapparaten, rekommandierte er mich gleich dem neuen Chef und ich zog in dessen Dienstwagen um. Es war dies ein zu einem Wohnwagen umgebauter Lastwagen mit einem Vorraum, einem Zimmer und einer kleinen Küche. Im Zimmer, das gleichzeitig Büro war, wohnte Mawrikin, in der Küche ich. Mawrikin und ich fanden uns gut zusammen, er entpuppte sich als sehr guter, manchmal den Russen gegenüber als zu guter Mensch. Technisch war er nicht gerade stark, aber desto mehr freute er sich, daß ich alles zur Zufriedenheit erledigte.

Wir kochten uns selbst, manchmal er, manchmal ich, wie wir gerade Zeit hatten. Produkte gab es nun genug, sie wurden einfach vom Chef auf den einzelnen Stationen bezogen. Für mich war es ein schönes Leben, trotzdem der Dienst manchmal nicht leicht war, sei es durch die Witterung oder durch die Verhältnisse nach der Revolution. Denn diese stieg den meisten Russen zu Kopfe. Wenn man jetzt die Arbeiten auf der Strecke beobachtet, so hat man das Gefühl, daß sich die Republik unter diesen Umständen nicht lange wird halten können. Jeder der für Ordnung ist, wird als Feind angesehen und oft kann man die Auswirkungen sehen. Einmal schafften Russen große Steine auf einen Platz, wo diese für den Verkehr nicht hinderlich sind. Bei uns würden dies zwei Mann mit Brechstangen bewältigt haben. Da standen 14 Mann herum, um jeden einzelnen Stein wurde ein Strick gebunden, alle Mann faßten an dem Strick und nun wurde im Rhythmus eines Gesanges alle Minuten der Stein 20 bis 30 cm über die Böschung hinaufgezogen. Es dauerte bestimmt dreiviertel Stunden bis der Stein oben war - , wenn er sich nicht aus dem Strick gelöst und wieder zurückgekollert ist, was auch vorkam. Nach dieser Prozedur kommt dann eine Rauchpause „sa kurit“ von sicher 30 Minuten. Rechnet man den Lohn pro Mann von nur 6 Rubel, so kann man ermessen, was die Arbeit kostet. Und solche Beobachtungen konnten auf der ganzen Strecke gemacht werden.

Einen anderen Vorfall erlebte ich auf einer Bahnstation. Bei einem Transport von Norden wurde ein Mann beschuldigt, einem anderen etwas gestohlen zu haben. Matrosen, die mit dem gleichen Zug von Murmansk kamen, machten mit dem Beschuldigten kurzen Prozeß, schlugen ihn nieder, deckten einen Mantel über ihn und schossen ihn durch den Mantel nieder.

Auf der Station „Polarny Kruk“ stand eine Lokomotive, deren Lager ausgefahren und zu reparieren waren. Sie stand noch unter Dampf als Soldaten kamen und die Maschine für einen Transport anforderten. Als der Lokomotivführer sich mehrmals weigerte, wegen der schlechten Lager zu fahren, stiegen die Soldaten auf den Führerstand, öffneten die Tür der Kesselheizung, packten der Führer und fragten ihn: „Willst du fahren oder nicht?“ Was blieb dem Mann anderes übrig?

Auch unsere Russen forderten mehr Lohn, 9 Rubel pro Tag. Mein Chef versprach mir 300 Rubel, wenn ich auch nach dem Frieden bei ihm bleibe. Nun, vorläufig verlebte ich eine angenehme Zeit im Waggon. Schon daß wir nicht immer auf einem Platz blieben, war sehr schön. Auch hatte ich, wenn ich auf Störung mußte, das Recht, jeden Zug zu benützen, auch alleinfahrende Lokomotiven. Öfters ritt ich oder fuhr mit dem Schlitten auf Störung. Bei so einem Ritt erhielt ich auf einer Station, vielleicht auch aus Bosheit, ein Pferd, das lange im Stall war. Ich ritt etwa 2 Werst und der Gaul ging ganz friedlich, als ich absteigen und mich in die Büsche schlagen mußte. Beim Aufsteigen jedoch ließ mich das Biest nicht mehr hinauf. Das gute Zureden half nichts und ich schnalzte ihm eine herunter. Da schlug es aus und traf mich seitwärts am Bauch. Momentan war ich bewußtlos, kam jedoch bald wieder zu mir, aber da war das Pferd schon auf und davon. Nun mußte ich zu Fuß zurück, ohne Roß kam ich bei der Station an. Dort empfing man mich lachend, denn der Gaul war schon lange vor mir nach Haus getrabt.

Einmal fuhr ich von einer Störung mit einer Lokomotive nach unserem Standort. Diese war amerikanischer Herkunft, sehr hoch gebaut und schwankte bei dem mangelhaften Oberbau noch mehr als normal. Als wir um eine unübersichtliche Kurve herumkamen, wir fuhren ziemlich rasch, sahen wir nicht weit von uns eine Draisine mit Gefangenen vor uns auf dem Geleise. Diese wollten die Draisine vom Geleise wegbringen, aber es war schon zu spät und sie ließen sie quer stehen und rannten davon. Glücklicherweise war die Draisine meist aus Holz gebaut, denn wir schnitten sie mitten entzwei. Bei einer Entgleisung hätten wir gewärtig sein müssen, daß wir einen hohen Damm hinuntergefallen wären.

So verging die Zeit mit diversen Erlebnissen. Da ich die ganze Zeit im Waggon lebte, sah ich manchen Unfall, die meisten solcher waren auf die äußerst schlechte Beschaffenheit des Bahnkörpers zurückzuführen. Aber auch auf den Zustand der Waggons wurde nicht viel geschaut, meist wurden die Reparaturen nur mangelhaft durchgeführt.

Im September waren wir selber an einem solchen Unfall beteiligt, der glücklicherweise noch gut ausging. Mein Chef war bei seiner Frau in Tschupa und ich fuhr allein im Waggon von dort nach Polarni Kruk. Unser Waggon war als letzter an einen Lastzug angehängt. Bei einer Steigung riß infolge unvorsichtigen Anfahrens die Zugstange eines vorderes Wagens und der „Teilzug“, es waren vier Waggons, machte sich selbständig und rollte zurück, unser Wagen jetzt als erster. Dieser hatte eine Handbremse und würde bestimmt den Train zum Stillstand gebracht haben, wenn die Bremse in Ordnung gewesen wäre. Aber die Bremsklötze waren so abgeschliffen, daß, obwohl ich, so weit das Gewinde der Bremskurbel reichte, zudrehte, die Wirkung gleich Null war. Das Tempo wurde immer schneller und schneller, etwa ein Werst fuhr ich mit, dann hielt ich es für ratsamer, den Zug seinem Schicksal zu überlassen und abzuspringen. Auf dem sandigen Bahndamm kam ich bald wieder auf die Beine und ging dem Zug nach. Nach ca. einer Viertelstunde sah ich die Bescherung. Dort arbeitete man mit kleinen Sandloren, die aber teilweise das normale Geleise mitbenützten. Als nun die Leute den Zug heranrollen sahen, waren sie so überrascht, daß es ihnen nicht gelang, alle Loren herauszubekommen. Unser Waggon als Erster fuhr nun auf eines der Wägelchen auf, entgleiste, brachte aber den Zug zum Stehen. Viel fehlte nicht, beinahe wäre unser Wagen ganz umgekippt.

Aber wie schaute es innen aus! Die Tür war aus dem Winkel und nur mit großer Mühe und Brecheisen aufzubringen. Im Inneren alles durcheinander, wir hatten einige Literflaschen mit Tinte für die einzelnen Büros auf der Strecke, die waren zerbrochen und mit diversen Schreibsachen und Formularen vermischt. Und doch war das andere Inventar nicht sehr beschädigt, es hätte mehr passieren können.

Bis zum Abend dauerte es, bis eine russische Kolonne den Waggon wieder ins Geleise brachte. Die anderen drei Waggons wurden schon früher von einer Lokomotive abgeholt. Schon gleich nach dem Unfall verständigte ich mit dem tragbaren Telefon, welches wir mithatten, ich schaltete es direkt an die Freileitung, meinen Chef. Er kam mit einer Draisine und freute sich, als ich ihm gesund entgegenkam.

An unserem Wagen waren die Lagerschalen beschädigt, er wurde händisch nach der nicht sehr weit entfernten Station Kotosero geschoben, wo er hätte repariert werden sollen. Aber später überlegte man es sich, die Reparatur wollte man in Polarni Kruk vornehmen, noch am gleichen Abend war ein Zug dahin fällig. An ihn wurden wir angehängt. Nach einigen Werst Fahrt aber sah ich schon hellichte Flammen bei unseren Achslagern. Mit Leibeskräften schrie ich dem Russen vom Bahnpersonal, der auf dem vorderen Waggon war, zu, und der brachte den Waggon zum Stehen. Man schmierte und pfuschte an den Lagern herum, kam aber dann zum Schluß, daß es bis Polarni Kruk schon gehen wird. Und so fuhren wir wieder los, aber nicht behutsam, wie dies für unseren kranken Waggon notwendig gewesen wäre, sondern im Eilzugstempo.

Ich atmete schon auf, als wir einen Sandbruch einen Werst vom Ziel passierten, plötzlich aber gab es einen Stoß und ich spürte, daß wir auf den Schwellen weiterrumpelten: wir waren entgleist.

Auf der Lokomotive bemerkte man es nicht gleich und dann konnte der Zug nicht sofort gebremst werden, so daß wir noch eine gute Strecke mitgezerrt wurden, immer gewärtig, vom Bahndamm links oder rechts herunterzukollern. Es waren bange Minuten für mich, schließlich sprang ich wieder ab.

Als ich wieder nachkam, fand ich unseren Wagen in ganz erbarmungsvollem Zustande. Mein Chef, der von Tschupa auf der Maschine unseres Zuges mitgefahren war, betrachtete unter meinen Vorwürfen wegen der russischen Wirtschaft die Bescherung. Im Wagen war alles drunter und drüber, der erst neu gemauerte Ofen eingefallen, Schriften, Bücher, Telefone, Bekleidungsstücke, Werkzeug, alles in wirrem Durcheinander. Er bewahrte aber seine eiserne Ruhe und sagte, daß man eben nichts machen kann. Der Wagen sollte noch in derselben Nacht, es war 11 Uhr, auf die Geleise gebracht werden. Zu diesem Zweck war ein Aufseher gekommen, der auf die Arbeiter warten sollte. Mein Chef fragte den Aufseher, ob wir, ohne die Arbeiter zu stören, im Wagen schlafen können, welches dieser bejahte.

Wir richteten uns also, so gut es die Wirtschaft erlaubte, ein und legten uns nieder. Ich hatte Zahnschmerzen und konnte nicht gleich einschlafen. Von der Ferne hörte ich eine Maschine kommen, mit der Arbeitsmannschaft, wie ich dachte. Sie kam näher und näher ohne daß sie irgendein Signal zum Stehenbleiben gab. Blitzschnell kam mir der Gedanke, daß der Lokomotivführer vielleicht gar nicht weiß, daß ein Waggon auf den Geleise stand. Aufspringen, dem Aufseher und meinem Chef zuzuschreien, daß er schnell weggehen soll, er lag mit dem Kopf gerade in Pufferhöhe, war eines. Eine Sekunde später kam die Maschine schon mit einem Krach in unseren Waggon. Glücklicherweise wurde der Stoß einerseits, da unser Waggon im Sand stand, andererseits, daß der Maschinist den Schein einer Kerze, die in unserem Wagen brannte, sah und Kontradampf gab, aufgehalten. Wir wurden nur um einige Meter fortgeschoben. Nun hatte ich es aber satt. Ich kümmerte mich weder um meinen Chef, noch was weiter werden sollte, band die Tür, die ganz aus allen Winkeln war, mit einem Draht zu und ging in die nahe Baracke schlafen,

Nun wieder einiges aus meinem Tagebuch.

Polarni Kruk, am 17.11.1917.

Ein sehr interessanter Punkt. Ich sitze auf dem Polarkreis. Wenn ich mich recht erinnere, liegt dieser bei ca. 66° nördlicher Breite. Es geht also von hier ab nach Norden die Sonne im Sommer nicht mehr unter, im Winter nicht mehr auf. Polarni Kruk ist der Name der Bahnstation. Sie liegt inmitten eines wildromantischen Nadelwaldes und ist für die Bahn eine Ausweich- und Aufnahmestelle für Wasser und Holz. Die Lokomotiven werden hier nur mit Holz geheizt, das in ungeheuren Mengen in dieser Gegend vorhanden ist und im Winter, wenn die Sümpfe zugefroren sind, geschnitten und auf großen Plätzen gelagert wird.

Der Winter hat nun schon seinen Einzug gehalten, es hat 20° unter Null und anfangs spürt man die Kälte mehr als später, wenn es 30 oder 40 Grad hat. Es gibt hier nur Weingeistthermometer.

Draußen ist eine prachtvolle nordische Nacht, kalt, aber unbeschreiblich schön. Eben komme ich von draußen und bewunderte die Sterne in ihrer Reinheit. Im Norden flimmert das Nordlicht, ein Flammenzüngeln in blaßgelber bis bläulicher Farbe. Wir sagen das „normale“ Nordlicht, das Nacht für Nacht leuchtet. Das „schöne“ Nordlicht ist selten und wir sahen es erst drei Mal. Dieses schimmert in allen Farben und nimmt verschiedene Formen an, bald wie Vorhänge, die sich im Winde bewegen, bald wie farbige Wolken.

Es hat auch diese Gegend viel Schönes!

Tschupa, am 27.11.1917

Mit dem Schreiben ist es sehr schwer, denn wenn wir auf der Fahrt sind, rumpelt es zu viel, stehen wir auf einer Station, so gibt es meistens viel zu tun. Auch haben wir jetzt einen Schreiber bekommen, der schreibt viel und so ist die Feder meistens besetzt. Die Tage sind nun schon ganz kurz, es wird um 10 Uhr licht und um 2 Uhr schon wieder dunkel - und in einem Monat muß die Lampe schon den ganzen Tag brennen. Eine Zeit, richtig zum Ausschlafen. Aber ich halte mich doch an die mitteleuropäische Ordnung, denn das viele Schlafen schadet in diesem Klima. Man bekommt hier leicht Tsinga, eine dem Skorbut ähnliche Krankheit, von der schon Tausende der Kriegsgefangenen befallen wurden. Viele Transporte mit Tsingakranken sind schon nach Süden abgegangen. Auch spielt die Unterernährung bei dieser Krankheit eine große Rolle, die ja bei den meisten Gefangenen vorhanden ist.

Man sagt von der Murmanbahn: Jede Bahnschwelle kostet einen Toten!

Wieder einmal eine Neuigkeit. Sämtliche Gefangenen sollen von Murman wegkommen, skoro mir (bald Frieden)! Wörter, die wir schon seit drei Jahren hören. Vielleicht nimmt uns noch heute die Lokomotive mit nach Kandalakscha und dann gibt es möglicherweise Post von daheim. Aber das Mitnehmen hängt jetzt allein vom guten Willen des Maschinisten ab. Man muß nur staunen, was für eine Wirtschaft hier nach der Revolution herrscht, die im Großen ja ganz gut ist, aber das Volk ist ihrer nicht würdig.

Es ist schon recht kalt, minus 22 Grad.

Klupoki, am 29.11.1917.

Man hat uns vorgestern doch mitgenommen, doch nur bis hierher. Mein Chef ist heute mit dem Schlitten nach Kniaschaja (9 Werst von hier) gefahren, um Filzstiefel für uns beide. Ich hoffe in Kandalakscha Post zu bekommen, vielleicht auch ein Foto von Lina, um welches ich schon oft geschrieben.

Wie ich erfahre, sollen mein Chef und ich, wenn wir wieder nach Polarny Kruk kommen, einen Wagen vierter Klasse beziehen, der für uns dort schon für unsere Zwecke hergerichtet wurde. Dann haben wir es noch besser, wahrscheinlich auch mehr Platz. Das freut mich auch für ihn, denn er ist ein wirklich guter Mensch, besonders mir gegenüber. Zwar bin ich auch seine rechte Hand und er weiß, daß er sich auf mich verlassen kann. Heute gab er mir eine größere Geldsumme zur Aufbewahrung während seiner Abwesenheit. Wir leben wirklich gut miteinander und es wäre mir leid, wenn ich hier wegmüßte und woanders in Rußland noch bleiben sollte. Er ist zwar schon 44 Jahre alt, hat aber eine sehr junge und hübsche Frau und ein Baby, 6 Monate alt. Seine Frau lebt in Tschuppa, und wenn wir dort Station halten, bin ich meist zum Essen bei ihm eingeladen.

Ein Begleiter ist mir die ganze Zeit treu geblieben, das Schachspiel. Einen fehlenden Bauern hat mir ein Kamerad geschnitzt und ich hoffe, das Ganze nach Hause bringen zu können. Auch die Socken habe ich noch, die mir Lina zu Weihnachten 1914 nach Iglau schickte. Trotzdem diese schon x-mal gestoppt und geflickt sind, bewahre ich sie doch als liebes Andenken auf.

Draußen hört man einen Menschen mit Ski herumklappern. Es ist ein Finne, der weiß Gott wieviele Kilometer darauf zurückgelegt hat.

Mein Chef kam zurück. Er hat zwar keine Filzstiefel bekommen, jedoch Zucker, Speck, Reis und Kaffee, also war seine Fahrt nicht umsonst und meine Zuckerbüchse ist wieder voll.

Kandalakscha, am 2.12.1917.

Endlich sind wir doch bis hierher gelangt. Und meine Post, ca. 35 Karten, hat ein Kamerad vor ein paar Tagen nach Polarny Kruk mitgenommen. Da heißt es nun wieder 2 oder 3 Tage warten.

Draußen ist heute ein schönes Nordlicht, ich wünschte, Ihr in der Heimat könntet es sehen. Das Meer ist auch schon zugefroren, man kann mit dem Schlitten hinüber und schneidet manchen Umweg ab. Hoffe, daß wir schon auf der Heimreise sind, bevor es aufgeht!

Es heißt wieder einmal, daß Frieden sein soll und daß die Kriegsgefangenen von hier wegkommen. Man fängt schon bei den Deutschen an, die Österreicher sollen später wegkommen.

Oh, wäre es doch wahr! Heute sind es eben 32 Monate, daß ich in den Karpathen gefangen wurde. Wer hätte gedacht, daß es so lange dauert!

Barnaul, am 15.Mai 1918.

Wir sind von Murman weggefahren - aber nicht nach Hause sondern tausende Kilometer weit nach Osten, von der Heimat weg, zum zweiten Mal nach Sibirien. Wir haben es uns wirklich nicht träumen lassen, daß wir nochmals in Sibirien im Lager sein werden.

Das Lager Barnaul liegt nicht sehr weit von der Mongolei, etwa am 53.Breitegrad, aber trotz der südlicheren Lage ist es noch kalt, manchmal schneit es.

Wir können mit einer Propuska (Bewilligung) in die Stadt gehen. Diese ist von der Revolution arg mitgenommen, von manchen Gebäuden stehen nur die Mauern, aber man gibt sich nicht viel Mühe mit dem Aufbau.

Im Lager sind etwa 10.000 Mann, darunter 1000 Deutsche und 600 Türken. Ich fand unter den letzteren einen Gendarmen aus Konstantinopel. Er lernt deutsch und wir sind oft beisammen und sprechen viel von seiner Heimat. Von den Österreichern gehen täglich Transporte nach dem Inneren ab, unsere Baracke soll übermorgen drankommen. Darum sind auch die Deutschen, die bis gestern mit uns zusammen waren und unter denen sich unsere alten Telegrafenarbeiter befanden, in eine eigene Baracke übersiedelt, so daß ich wieder einmal allein bin. In letzter Zeit bestand unser Trupp am Murman nur aus Deutschen, die paar Österreicher haben sich nach und nach infolge Krankheit oder Vorschützung solcher abgesetzt.

Es scheint nun doch endlich nach Hause zu gehen!

Ich suche mir bei den Österreichern einen Platz in einer Gesellschaft.

Tobolsk, am 16.5.1918

Vor 5 Jahren war ich mit Lina in der Wachau. Wir waren das erste Mal einige Tage allein und es war eine herrliche Maienzeit für uns beide. Wir fuhren mit dem Schiff nach Krummnußbaum, nächtigten in Maria Taferl und marschierten den ganzen Tag durch das Weitental. Es war für uns beide ein unvergeßlicher Tag. Sonne, die Wiesen und Felder und die Liebe in den Herzen - wenn ich hier zurückdenke, ist meine Sehnsucht nach den Lieben daheim noch viel stärker.

Nun sind wir hier im Norden, abseits der Bahnlinie. Von Barnaul fuhren wir über Novi-Nikolajewsk mach Tjumen und hier in dem weiten Sibirien traf ich, ohne daß wir voneinander wußten, meinen Bruder Heinrich. Und beinahe wären wir aneinander vorbeigegangen.

In Tjumen war, wie oft in den Lagern, eine Veranstaltung, ich ging aber nicht hin. Am Ende kamen Kameraden von unserem Transport in die Baracke, wo wir einquartiert waren und fragten mich, ob ich nicht einen Bruder in der Gefangenschaft habe, sie hätten bei der Vorführung eines Gesangsquartetts einen Schröfl kennengelernt.

Heinrich wohnte in einer Gärtnerbaracke. Da es schon zu spät war, noch am gleichen Abend hinzugehen, fanden wir uns erst am nächsten Morgen. Ich wußte wohl von seiner Gefangennahme schon im Jahre 1914, vermutete ihn aber in Ostsibirien, da wir zu Hause von dort regelmäßig Nachricht von ihm erhielten.

Wir verbrachten einige Tage, solange unser Transport in Tjumen war, miteinander und berieten auch, ob wir nicht zusammenbleiben sollten, doch kamen wir zu dem Schluß, daß es aus zwei Gründen besser ist, in das Schicksal nicht einzugreifen. Erstens war Heinrich um 18 Jahre älter und es war damals die Aussicht für die Gefangenen über 40 Jahre in Kürze ausgetauscht zu werden, so daß ich dann wieder allein gewesen wäre. Zweitens sollte ich, wenn ich in Tjumen bleiben dürfte, der Kommunistischen Partei beitreten. Und das wollten wir beide nicht.

So fuhr unser Transport nach 3 Tagen hierher und wir sind im Lager Potschiwaschi am Ufer des Irtisch untergebracht, das Lager befindet sich etwa 3 km von der Stadt Tobolsk entfernt.

Hier enden meine Aufzeichnungen aus der Kriegsgefangenschaft überhaupt und ich kann meinen Bericht nur nach meinen Erinnerungen fortsetzen.

Potschiwaschi war kein schlechtes Lager. Manche von den Gefangenen waren schon über drei Jahre hier. Bevor die Baracken, die wir bewohnten, - es waren Holzbaracken - gebaut wurden, waren die Plenys in den sogenannten Salzbaracken untergebracht. Das waren finstere Lagerräume, die vielleicht schon mehrere hundert Jahre alt waren. Wir mußten einmal Salzsäcke von dort zum nahen Ufer auf ein Schiff laden, keine leichte Arbeit, denn das Salz war steinhart und so ein Sack hatte 4 Pud (ca. 60 kg). Da sahen wir, wie’s im Inneren der Baracken ausgeschaut hat. Dagegen waren unsere Baracken licht und, obwohl die Wände nur aus Brettern waren, konnte man’s im Winter aushalten.

Unser Lagerkommandant, ein russischer Offizier, leitete das Lager anständig, es war überhaupt eine andere Zeit im Vergleich zu den Zuständen vor der Revolution. Auch in der Behandlung war schon ein Unterschied. Das Essen war regelmäßig und halbwegs gut. Lagerarbeiten gab’s, aber auch mäßig, es gab Bücher - besonders hatte es mir ein Buch über Astronomie angetan - so daß das Leben erträglich war. Natürlich fanden sich Gleichgesinnte zusammen und die Geselligkeit machte die Gefangenschaft leichter.

Da an Spielkarten ein Mangel war, kamen wir auf die Idee, solche selbst zu erzeugen. Ein Holzschnitzer war da, ich konstruierte eine Presse, und schon gab es wieder einen kleinen Verdienst, als Zubuße.

Handwerker wie Schuster, Schneider, Schuhleistenmacher, Fleischer u.s.w. fanden in der Stadt gute Arbeit, es waren dies unsere Bourgeois. Viele wohnten in der Stadt, hatten dort ihre Mädchen und waren besser gekleidet als die Russen. Durch sie kam mancher Rubel in das Lager. Und durch sie war es auch leichter, den Kontakt mit der Stadt zu bekommen.

Unser Lager hatte auch ein Orchester, das gleichfalls öfters in der Stadt spielte, und ein Gesangsdoppelquartett, bei welchem ich den zweiten Baß sang. Und schließlich bildete sich auch eine Theatergruppe, ich machte dafür Dekorationen und spielte auch selbst mit. Eine Baracke wurde als Theatersaal mit einer Bühne hergerichtet und hier fanden oft Veranstaltungen statt, richtige Theaterstücke, soweit wir sie mit unseren Kräften spielen konnten. Zwei Kameraden, die ein weibliches Aussehen hatten, waren unsere Damen und spielten auch ihre Rollen ganz vorzüglich. Öfters waren auch Russen da, die es nicht glaubten, daß die Frauen in den Stücken Männer sind.

So vergingen Sommer und Herbst 1918 und ich erinnere mich an kein besonderes Ereignis. Oder doch: Oft liest oder hört man von dem unnatürlichen Verhältnis zwischen Gefangenen. Mir ist sonst kein solcher Fall in der Kriegsgefangenschaft bekannt, aber mir selbst passierte es. Bei dem engeren Kreis, den wir Gleichgesinnte bildeten, war auch einer der damenspielenden Kameraden. Wir hatten unsere Schlafstelle nebeneinander. Und so geschah es, daß ich mich in diesen Mann regelrecht verliebte. Es war für mich ein schrecklicher Zustand, durfte ich doch meine Gefühle nicht zeigen. Wochenlang fand ich nachts oft stundenlang keinen Schlaf und hörte nur auf das Atmen meines Nebenmannes. Ja, ich wurde eifersüchtig, wenn zwischen ihm und anderen Kameraden freundliche Worte fielen und manchmal zog ich mich in einen einsamen Winkel zurück und heulte. Heute finde ich diesen abnormalen Zustand absurd, aber er war damals wirklich da. Gewiß waren auch alle Verhältnisse dazu angetan, solche Gefühlsentgleisungen zu begünstigen. Als ich dann endlich einsah, es könne so nicht weitergehen, nahm ich eines Tages mein Bett und zog in eine andere Abteilung der Baracke. Und so wurde ich mit der Zeit wieder vernünftig und normal.

Auch ein anderes Ereignis kam mir dabei zu Hilfe. Zwischen den beiden Ufern des Irtisch verkehrte im Sommer eine Fähre, die eine Straße, die durch den Strom unterbrochen war, verband. Es war dies eine Plätte, die von einem Dampfschiff von einem Ufer zum anderen gezogen wurde. Dieses Dampfschiff wurde im Winter überholt und man brauchte Techniker. Ein Kamerad und ich meldeten uns für die Reparatur der Dampfmaschine. Diese wurde auseinandergenommen und Teil um Teil gewissenhaft überholt. Diese Arbeit dauerte ziemlich lange, denn wir hatten keinen Grund uns zu beeilen.

Es kam wieder einmal Weihnachten, die vierten in der Gefangenschaft und ich erinnere mich, daß am Weihnachtstag wieder ein herrliches Nordlicht zu sehen war.

Der Irtisch war zugefroren und ein reger Fernverkehr wickelte sich auf dem Eise ab. Rund um unser Schiff, und es waren auch noch andere Schiffe da, mußte täglich das Eis aufgehackt werden, damit die Schiffe vom Eis nicht zerdrückt werden.

Die Temperatur fiel nun schon auf 30 bis 40 Grad Kälte. Ich mußte einmal nach Tobolsk und wäre beim Rückweg beinahe nicht mehr ins Lager gekommen; die Füße waren schon ganz steif.

Politisch war Tobolsk, da es damals noch nicht an einer Bahnlinie lag, von den Wirren, die in Rußland und Sibirien herrschten, noch verschont. Die Bolschewiki waren noch weit in Rußland, wir waren noch im weißen Gebiet.

Im Frühjahr 1919 waren wir mit unserer Maschine so weit, daß nach der Tauperiode die Probefahrt erfolgen konnte. Es ging tadellos und somit begann auch der Fährdienst. Als Heizer nahmen wir uns noch zwei Kameraden, wir beide fungierten als Maschinisten. Je ein Maschinist und ein Heizer machten 12 Stunden Dienst, 12 Stunden waren dann frei. Nachts wurde nicht gefahren.

Es war ein schöner Dienst. Die Bauern brachten ihre Produkte zur Stadt mit ihren Panjewagen und oft gab es für uns etwas Gutes, Obst, süßen und sauren Rahm in kleinen irdenen Gefäßen und andere gute Dinge. Und wenn gerade niemand da war, sonnte man sich an Deck. Es war eine geruhsame Arbeit, bis - ja, bis es mit den Roten brenzlich wurde. Es muß Mitte 1919 gewesen sein, als die Rote Armee in Rußland gegen Sibirien vorrückte, und wir waren ja in Westsibirien. Zuerst waren es Zivilisten, die mit ihren Sachen im Osten Zuflucht suchten, das ging noch, aber dann kamen schon militärische Transporte. Wir waren gezwungen auch nachts zu fahren, überladen, daß beinahe das Wasser schon auf die Plätte kam. Nun ging es ohne Pause von einem Ufer zum anderen und wir mußten eine dritte Schicht einführen, denn auf die Dauer war der Dienst mit zwei Ablösungen nicht zu machen. Aber - Maschine hatten wir nur eine und für die gab’s keine Ablösung und so kam der Tag, an dem wir sahen, eine Reparatur, besonders der Lager, ist dringend notwendig. Aber wann? Unser Kapitän, ein Russe, versuchte immer wieder Pausen einzuschalten, um wenigstens das notwendigste zu machen, umsonst, jeder ankommende Offizier trachtete, daß er wenigstens mit seinem Trupp noch hinüberkommt und so ging das fort. Zweimal kam man mit der Pistole in den Maschinenraum und bedrohte uns, da sich der Kapitän auf die defekte Maschine berief.

Später ließen die Militärtransporte nach, ein Zeichen, es ging den Weißen an der Front wieder besser. Doch das dauerte nicht lang.

Eines Tages kam von irgendwo der Befehl, alle Gefangenen müssen evakuiert werden. Eine Überraschung für uns, aber wir machten uns keine Hoffnungen mehr, daß es endlich nach Hause geht, denn den Gerüchten nach waren die Roten wieder im Vormarsch.

Ich erinnere mich heute nicht mehr, wie wir auf den Schleppkahn gekommen sind, wahrscheinlich marschierten wir nach Tobolsk, da dort ein Anlegeplatz für die Schiffe war. Der Kahn faßte in seinem Bauch ca. 500 Personen, wir waren 240 Plenys, die übrigen waren Rotarmisten, welche bei den Weißen in Gefangenschaft gerieten und in einem furchtbaren Zustand waren. Verhungert und zerfetzt und krank. Sie wurden von den Weißen in dem berüchtigten Turm von Tobolsk, in Verliesen in Stockwerken unter der Erde eingesperrt. Die Rotarmisten waren durch eine Bretterwand von uns getrennt, doch war es nicht zu vermeiden, daß wir zusammenkamen, da am Kahn nur eine einzige Latrine war. Und sie bettelten und bettelten, wo sie einen Pleny trafen.

Oben an Deck lud man Kisten, Wagen und unzähliges Material, Fässer mit Butter und Öl, Hausrat, auch Pferde waren gerade ober uns, die stampften Tag und Nacht. Und als der Kahn vollgestopft war, ging’s los. Ein Dampfer zog uns stromabwärts nach Norden.

Unsere engere Gemeinschaft, Deutsch, Wenty, Freitrauer, Mayer (unsere Theaterdame) und ich richtete es sich so häuslich als nur möglich in der Barsche - die russische Bezeichnung für Schleppkahn - ein und es war uns eigentlich nicht unangenehm, wieder Abwechslung vom Lagerleben zu haben. Daß es auch diesmal wie so oft ins Ungewisse geht, waren wir schon gewöhnt. Einen Nachteil hatte unser Platz, er war unmittelbar an der Bretterwand, die uns von den Rotarmisten trennte.

Unsere Küche war auf Deck in einer Hütte. Als wir das erste Mal Menage holten, bekamen wir schon eine Ahnung, was uns bei dieser Fahrt erwartet. Wir mußten an drei toten Rotarmisten vorbei, die man knapp vor der Küche, die einzige Stelle wo noch Platz war, hinlegte. Und die Zahl dieser Armen (oder Erlösten?) steigerte sich von Tag zu Tag, oft waren es 8 oder 10. Sie starben an Typhus. Wenn das Schiff gelegentlich anlegte, scharrte man sie am Ufer im Sand ein. Besondere Mühe machte man sich dabei nicht.

Auch an diesen Anblick beim Essenholen gewöhnten wir uns, die Tage waren warm und schön, manchmal überflog uns ein Aeroplan, damals noch eine Seltenheit, und wir wußten nicht, war er uns freundlich oder feindlich gesinnt. Die Landschaft zog an uns vorbei, manchmal sah man Hütten am Ufer, oft winkte man uns zu, wahrscheinlich waren Schiffe auf dieser Strecke nicht oft zu sehen.

Die Ufer des Irtisch sind, wie bei den meisten sibirischen Flüssen, die nach Norden fließen, sehr verschieden hoch. Das östliche Ufer erhebt sich 10 bis 12 Meter, oft noch höher, vom Fluß, während man vom westlichen Ufer weit in die ebene Landschaft sehen kann. Ob das mit der Erddrehung zusammenhängt?

So ging’s einige Tage gemütlich dahin, als das Unheil auch zu uns kam. Es war ja zu erwarten, daß die Krankheit nicht nur bei den Rotarmisten blieb. Nicht nur der persönliche Kontakt, auch die Läuse, die von drüben herkamen, sorgten schon dafür, daß wir nicht verschont blieben. Mit Einzelfällen fing’s an. Von unserer Gemeinschaft war ich der erste. Hohes Fieber (Thermometer war keines da) und fürchterliche Kopfschmerzen. Oft war ich nicht bei mir, wie mir die Kameraden später sagten. Aber wenn ich bei Bewußtsein war, ich hätte die Pferde umbringen können, die pausenlos stampften und scharrten, so weh spürte ich das im Kopf.

Und in dieser schweren Zeit bewies sich wieder die Kameradschaft. Wie wohl tut es, wenn man spürt, umsorgt und behütet zu sein. Besonders Deutsch, der auch später vom Typhus verschont blieb, opferte sich sehr auf und sorgte für die Kranken.

Am Schiff war unter den Plenys ein angehender Tierarzt, aber auch er wurde bald von der Krankheit befallen. An Medikamenten fehlte es gänzlich, anstelle eines fieberstillenden Mittels täuschte man uns mit gewöhnlichem Mehl.

Wie lange wir fuhren, weiß ich nicht. Eines Tages, ich war schon besser, sagten mir meine Kameraden, wir stünden schon einige Zeit und es sollte nicht weitergehen. Es war ein schöner sonniger Tag und Wenty fragte mich, ob ich mich nicht sonnen wollte. Er nahm eine Decke, wickelt mich ein und wir gingen am Ufer entlang, bis zu einem Kahn, der verkehrt am Strand lag. Hier setzte er mich hin und ich werde es ihm nie vergessen, er legte seinen Arm um mich und ich spüre heute noch seine warme Hand auf meiner kalten Nasenspitze und das wohlige Gefühl der wärmenden Sonne und der sich anbahnenden Genesung.

Der Ort, wo wir standen, hieß Samarow und lag an oder unweit der Mündung des Irtisch in den Ob. Unweit des Ortes in einem Wald sollte eine heilbringende Quelle sein. Viele von uns pilgerten dort hin, ich war aber noch nicht so weit, um solche Ausflüge zu machen. Ich war wieder auf meinem Platz in der Barsche und hörte nur von den anderen, was vorging. Oberhalb von unserem Schiff stand noch ein anderes, vollgeladen mit verschiedenen Lebensmitteln. Auf diesem Schiff taten Kriegsgefangene Dienst. Und so kam es vor, daß manchmal Lebensmittel ins Wasser fielen, die dann von unseren Leuten aufgefischt wurden, einmal sogar ein Faß mit eingesalzener Butter.

Nach einiger Zeit ging’s wieder los. Und zu unserem Erstaunen machten wir Kehrt und fuhren zurück in Richtung Tobolsk, im Schneckentempo stromaufwärts.

Der Typhus grassierte nun auch bei uns Plenys, von den 240 Mann waren nur noch 20 gesund. Was diese Gesunden leisteten, war mehr als Aufopferung. Ganz besonders war Deutsch tätig. Ihm verdanken viele das Leben. Von unserer Gemeinschaft war auch er der einzige Gesunde. Ich weiß von der Rückfahrt nicht viel, da ich ja doch noch zu krank war, nur erinnere ich mich, ich wollte einmal, es war eine stockfinstere Nacht, der Misere ein Ende machen und während der Fahrt über Bord gehen. Der Grund, wieso es nicht dazu gekommen ist, auch der entschwand meinen Erinnerungen. Vielleicht ist man mir nachgegangen.

Wieder legten wir in Tobolsk an. Unsere Unterkunft, so hieß es, war die Druschina, eine Kaserne in dem oberen Teil der Stadt. Wer halbwegs gehen konnte, mußte zu Fuß dorthin, normal eine halbe Wegstunde. Die Kranken, darunter auch Wenty, wurden ans Ufer gelegt, sie sollten später mit Wagen in die Kaserne gebracht werden.

Eine Decke umgehängt, die Menageschale mit einem Schnürl um den Hals, so wankten wir Halbgesunden wie Gespenster durch die Stadt. Die Leute machten einen Bogen um uns, da sie ja von dem Typhus wußten. Statt einer halben Stunde brauchten wir zwei.

Deutsch und die anderen Gesunden bemühten sich um Wagen und wirklich kamen auch die meisten in die Druschina. Wenty aber war nicht zu finden, er war im Fieber, wie später bekannt wurde, über ein schmales Brett auf ein fremdes Schiff gegangen und setzte sich dort zu einem Ofen. Wieder war es Deutsch, der ihn fand und noch mit einem letzten Wagen spät in der Nacht zu uns brachte.

Die Druschina war eine verhältnismäßig gute Unterkunft. Die Räume waren gut heizbar, licht und als frühere Kaserne auch gut ausgestattet. Die Verpflegung ausreichend.

Mit mir erholten sich andere Rekonvaleszenten hier rasch, so daß wir unsere überlasteten Pfleger unterstützen konnten. Ein schwieriger und auch lästiger Kranker war Wenty. Kaum war man von seinem Bett weg, schrie er schon wieder nach einem. Und sowohl Deutsch als auch ich kümmerten uns um ihm mehr als um andere.

Aber auch diese Wochen vergingen und die Meisten wurden wieder gesund. Wieviele von den 240 Mann, die von Potschiwaschi wegfuhren, die Fahrt überlebt haben, weiß ich nicht, von den näheren Bekannten starb keiner.

Die politischen Verhältnisse waren damals unklar. Daß man uns wieder nach Tobolsk zurückbrachte, deutete darauf hin, daß die Bolschewiki wieder zurückgehen mußten. Im anderen Fall fürchteten die Weißen, die Mehrzahl der Gefangenen werde mit den Roten gemeinsame Sache machen. Umgekehrt sahen wir bei der Bevölkerung Nervosität und auch Ausschreitungen, so war ich Zeuge von einer Plünderung der Wodkafabrik, bei der es ganz unsinnig zuging. Der Wodka war in Flaschen, ca. 2 Liter gefüllt und zu 20 Flaschen in einer Kiste verpackt. Anstatt nun die Kisten richtig aufzumachen, wurden sie von einer Rampe heruntergeworfen, damit sie aufspringen, natürlich waren sicher 3/4 der Flaschen hin und der Rest wurde weggetragen. Auch sonst bemerkte man, daß die Ordnung nicht mehr da war.

Und wirklich, nach einer Zeit gingen schon Gerüchte um, die Roten wären im Anmarsch. Uns war bang, ob man uns nicht nochmals abtransportieren wird. Doch rührte sich nichts, bis eines Tages Gewehrschüsse zu hören waren. Danach war es wieder eine Zeit still.

Wir waren in der Nähe von der Gubernski Polnitza, dem Krankenhaus des Gouvernements Tobolsk, in dem ein Pleny Bäcker war und von wo wir manchmal, natürlich schwarz, Weißbrot erhielten. Man mußte sich, um ungesehen dorthin zu kommen, durch Gärten und Zäume durchschleichen und, als ich einmal für Wenty Brot holen wollte, er war damals noch krank, pfiffen ober und neben mir schon die Gewehrkugeln. Da schaute ich aber, daß ich mit meinem Brot schnell wieder zurück in die Baracke kam. Und noch am gleichen Tag zogen die Roten in Tobolsk ein. Ohne Widerstand.

Wir im Lager spürten nicht viel davon, nur, wir sollten Ordnung halten. Die Verpflegung war nach wie vor genügend. Etwas gefiel mir, schon am nächsten Tag wurde Milch besorgt für die Kinder, auch Kinderkrippen wurden errichtet. Auch teilte uns die Militärverwaltung mit, daß wir nun Bürger der Sowjetrepublik wären mit den gleichen Pflichten und Rechten wie die Einheimischen. Die Verpflegung laufe weiter, wir könnten uns aber Arbeit suchen.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und hatte Glück. Man suchte für die Stadttelefonzentrale einen Techniker für die Wiederherstellung. Nach Abzug der weißen Stadtverwaltung wurde, teilweise durch diese, teilweise vom Volk, viel weggeschleppt.

Ein Gehäuse für einen Verbindungsschrank wurde von einer anderen Stadt beschafft, Drähte waren auch aufzutreiben und so ging ich daran, den Schrank neu zu schalten. Es war eine Arbeit von etwa einer Woche. Ich blieb nun in der Zentrale, hatte zwar einen russischen Natschalnik als Vorgesetzten, der mir aber vollständig freie Hand ließ. Er hatte seine Familie in Tobolsk und ich war oft Gast bei ihm. Drei Telefonistinnen wurden mir beigegeben und so führte ich den Betrieb. Die Telefonzentrale war im Gouverneursgebäude und gleich am selben Gang war ein schön eingerichtetes Zimmer, das ich nun mit dem Lager tauschte. Ein Diwan war mein Bett, ein großer russischer Ofen mit genügend Holz machte den Raum gemütlich warm. Das Essen gab es in einem Speisehaus, das von der Verwaltung errichtet wurde, auf Karten. Es war recht mager, denn durch Transportschwierigkeiten und wahrscheinlich durch die Frontverhältnisse war die Lebensmittelzufuhr arg unterbunden.

Da das Außennetz sehr beschädigt war, bekam ich für die Instandsetzung einen russischen Telefonarbeiter und später kam auch Wenty dazu. Weiters erhielt ich das Recht, bei den Einwohnern der Stadt Fernsprechapparate, die von den Leuten zurückgehalten wurden, zu beschlagnahmen. Dabei begleitete mich ein Milizsoldat. Bei einer solchen Untersuchung passierte es uns einmal, daß wir absichtlich in eine Hütte geführt wurden, wo drei ganz ansehnliche Bären waren. Wir verschwanden aber sehr eilig!

In dieser Zeit lernte ich einen Matrosen kennen, einen Funker, seine Funkstelle war im gleichen Haus, und ich war öfters bei ihm. Er erklärte mir seine Apparate und ließ mich auch die verschiedenen Signale der einzelnen Stationen hören. Es war für mich ein Erlebnis, darunter auch das Zeichen von Königswusterhausen, so weit von der Heimat weg zu hören. Damals war es noch ein Ereignis, heute, wo man die ganze Welt im Radio hören kann, lächelt man darüber.

Die Bolschewiken hatten sich endgültig in Tobolsk gefestigt. Es gab ein Kriegskommittee, ein Revolutionskommittee, eine Stelle der berüchtigten Tscheka, überall wurden Kommissäre eingesetzt, die die amtlichen Dienststellen kontrollierten.

Mit der Tscheka hatten eine Telefonistin und ich einmal eine nicht sehr angenehme Berührung. Einer der Oberen bekam in der Nacht nicht die gewünschte Verbindung und zeigte uns wegen Sabotage an. Wir beide wurden zur Tscheka gerufen. Mit welch gemischten Gefühlen wir dorthin gingen, ist vorstellbar, denn mit Saboteuren machten man in jener Zeit keine Geschichten. Wir sahen uns schon verhaftet.

Die Tscheka war in einem einstöckigen Gebäude untergebracht, im Parterre waren verschiedene Herren und Milizsoldaten, eine Treppe führte von dem unteren Raum direkt in das Zimmer des Natschalnik. Beide Räume waren mit einem Sprachrohr verbunden, ohne eine Order von oben wurden die Besucher nicht hinausgelassen.

Nun, wir hatten Glück. Mit einem Verweis kamen wir davon, nachdem wir versichert hatten, daß weder die Telefonistin geschlafen, noch sonst eine Schuld an uns lag und möglicherweise eine Leitungsstörung die Ursache war.

Für uns angenehmer war ein Besuch beim Natschalnik des Wojna-Kriegskommandos. Wir, Wenty und ich, mußten dort einen Telefonapparat montieren und wurden nach Fertigstellung mit geräuchertem Fisch, Brot und Butter reichlich bewirtet, was in jener Zeit, es war beinahe schon Hungersnot, etwas ganz Besonderes war.

Unser Kamerad Mayer war in einer Desinfektionsanstalt tätig und hatte einen unglücklichen Unfall. In einem Kleidungsstück war ein Explosionskörper, der krepierte und ihn im Gesicht so verwundete, daß er ein Auge verlor.

Infolge der geänderten Verhältnisse durch das Rote Regime, das für uns Gefangene nur Vorteile brachte, interessierten wir uns immer mehr für den Bolschewismus und es wurde die Frage aktuell, wie verhalten wir uns zu dieser. Auch die Russen befaßten sich mehr politisch mit uns, es wurden Versammlungen abgehalten und es kamen auch deutsche oder deutschsprachige Agitatoren.

Immer öfter hörten wir, Plenys sind der Kommunistischen Partei beigetreten und bald besprachen auch wir uns, was wir tun sollen. Wenty, Mayer und ich waren bei staatlichen Stellen beschäftigt, ich glaube auch Freitrauer, so hielten wir es als zweckmäßiger, auch zur Partei zu gehen. Wir erfuhren zwar von den Enteignungen und Beschlagnahmungen, aber infolge der im Laufe von fünf Jahren erlebten Begebenheiten und unserer Armut fanden wir in diesen Maßnahmen nichts, was uns als besonderes Unrecht erschien. Das Organisieren ist uns in der Gefangenschaft ja selbst in Fleisch und Blut übergegangen. Und das änderte auch die Parteizugehörigkeit nicht.

So gab es zum Beispiel im Gouverneurshaus - es war dies ein mächtiges Gebäude mit vielen Amtsräumen und einigen großen Sälen - stoßweise Schreibpapier und Formulare, eine Mangelware in dieser Zeit, weiters waren die großen Saalfenster mit roten Stoffvorhängen versehen, das alles wurde von uns verwertet. Für das Papier hatten wir Mittelsmänner unter den Plenys, die es in der Stadt absetzten, die Vorhänge wurden schwarz gefärbt und für Kleider verwendet.

Ich selbst hatte einen solchen Anzug, aber er hatte die unangenehme Eigenschaft, Farbe zu lassen, so daß die Unterwäsche schwarz war, wenn man ihn trug. Wenn es regnete, mußte man achtgeben, damit das verräterische Rot nicht zum Vorschein kam. Ich borgte den Anzug einem Kameraden, der zu einer Tagung nach Moskau mußte und habe Beide nicht mehr wiedergesehen. Ob der Anzug schuld war?

Deutsch hatte sich von der Partei ferngehalten. Und er hatte nicht Unrecht, wußte man ja nicht, wie sich die Sache später in der Heimat auswirkt.

Im Frühjahr 1920 übersiedelte die Telefonzentrale in den unteren Teil der Stadt. Wir hatten mächtig viel Arbeit mit der Verlegung der Leitungen für den Umzug. Das Gebäude, in das wir einzogen, beherbergte noch vor kurzer Zeit die Zarenfamilie. Man brachte sie von dort nach Ekaterinenburg, wo sämtliche Mitglieder erschossen wurden.

Die neuen Räumlichkeiten für die Zentrale und unser Wohnraum waren sehr schön, ich wohnte nun mit Wenty zusammen.

Der 1.Mai 1920 wurde feierlich begangen und wir marschierten nach einer Ansprache geschlossen auf ein Feld, Erdäpfel zu legen. In dieser Zeit führte die Partei auch die „Sobotniki“ ein, „freiwillige“ Arbeiten am Samstag Nachmittag.

Nun, zur Erdäpfelernte hofften wir nicht mehr in Tobolsk zu sein - und es kam wirklich so. Vorher, es war im Juni oder Juli, brach der russisch-polnische Krieg aus und Wenty und Mayer meldeten sich zur Waffe, in der Erwartung, daß sie dadurch näher zur Heimat kommen.

Aber auch ohne Maßnahme kam in August oder Anfang September unsere Abreise von Tobolsk. Es ging über Tjumen, Swertlowsk nach Petersburg, das nun Leningrad hieß. In Tjumen versuchte ich etwas über das Schicksal meines Bruders Heinrich zu erfahren, aber alle Erkundigungen waren leider ohne Erfolg. Das Lager wurde schon früher geräumt und die Leute in der Stadt, es waren dort noch Plenys zurückgeblieben, kannten ihn nicht oder konnten sich nicht an ihn erinnern.

Die Fahrt nach Tjumen war recht angenehm, wir waren nicht in Viehwagen sondern in richtigen Pullmannwagen untergebracht und hatten sogar einen Wagen, der als Bad mit hölzernen Badewannen und Warmwasser eingerichtet war. Das war für uns eine Wohltat.

In Leningrad angekommen, sahen wir die Verwüstungen, viele Läden waren mit Brettern verschlagen, öd und leer waren die Straßen. Die Straßenbahnen fuhren zwar, die Fahrten waren für uns Gefangene frei (oder überhaupt?), aber wir waren schon zu sehr auf’s Heimfahren eingestellt, als daß wir viel herumgefahren wären. Heute tut’s mit ja leid, denn vieles wäre zu sehen gewesen. Ich erinnere mich heute (1966), in der Newa lag ein großer Dampfer, versenkt, eine Bordwand ragte aus dem Wasser. In Leningrad war Hungersnot, das spürten auch wir gewaltig die paar Tage, in denen wir dort waren. Wir bekamen einen Hundekuchen, wie wir ihn nannten, der nicht zu essen war. Nach ein paar Tagen wurden wir wieder in die Waggons gesteckt und nun ging’s aber wirklich in die Freiheit!

In Jamburg, der Grenzstation, durchfuhren wir die Stacheldrahtanlage, dann über eine Brücke - und wir hatten Rußland hinter uns. Wir waren in Estland. Nach einiger Zeit hielt unser Zug bei der estnischen Festung Narwa.

In der Festung lagerten viele Kriegsgefangene, Österreicher, Deutsche, Ungarn und andere Nationen. Hier bekamen wir das erste Mal seit Tagen richtig zu essen. Vier Personen zusammen erhielten eine große Büchse Corned-beef, unsere erste Bekanntschaft mit diesem in jener Zeit so begehrten Artikel. Und auch Brot gab’s. Wir schliefen im Freien, nicht unangenehm, denn es war Anfang September.

Die Stimmung unter uns war die denkbar beste. Wir hatten wohl noch unser abgetragenes Plenygewand an, aber wir waren nicht mehr Gefangene sondern freie Menschen. Die meisten unter uns warten schon 4, 5 oder noch mehr Jahre auf die Wirklichkeit, die so herbeigesehnt wurde.

Wir wurden eingeteilt und mußten auf ein Schiff warten. Nach einigen Tagen kam es, es war speziell für Truppentransporte hergerichtet, enthielt unter Deck doppelstöckige Holzpritschen und in der Mitte waren Tische für die Menage da.

Das Schiff faßte 500 bis 600 Mann.

Es ging also los! Richtung Deutschland, Ziel Swinemünde und Stettin. Anfangs war das Meer ruhig und alle, die noch nie am Meer gefahren waren, waren begeistert. Doch als wir weiter hinauskamen, war die Begeisterung nicht mehr so stark und später, unterhalb des Finnischen Meeerbusens, da bekamen wir so einen richtigen Nordwind, der zu einem Orkan anschwoll. Da war es mit der Lust zur Schiffahrt bei den meisten vorbei. Es war aber auch eine Hölle. Nachts tobte und heulte der Sturm, das Schiff stampfte und schlingerte und krachte in seinen Fugen. Unter Deck rutschen die Tische und Bänke, je nach der Lage des Schiffes nach der niederen Seite, die Eßgeschirre aus Blech klirrten und schepperten, es war ein Höllenlärm.

Ich und noch ein Kamerad aus unseren Gruppe hielten uns für seetüchtig, ja wir beide wagten uns sogar manchmal kurz an Deck, um dem Wüten der Gewalten zuzuschauen. Und da passierte es bei mir! Beim Hinabsteigen, halb auf der Treppe, überkam es mich. Ich mußte einen Ständer der Treppe umarmen und mich so übergeben. Aus war’s mit dem Seebären. Erst als es am nächsten Tag ruhiger wurde, kroch ich gedemütigt aus meiner Pritsche.

Wir fuhren nun im dichten Nebel, das Nebelhorn heulte fortwährend in Intervallen. Bis nahe vor Swinemünde hielt der Nebel an, dann klärte es auf. In Stettin erwartete uns schon eine große Menschenmenge mit Musikkapellen und Hurra. Das Deutschlandlied ertönte, wir verließen unser gastliches Schiff und marschierten zum Bahnhof.

Erstaunt waren wir über die Beleuchtung des Bahnhofs. Das war ein Gegensatz zu der Finsternis in Petersburg. Dort sagten uns die Russen, in Deutschland gäbe es keinen Strom, keine Beleuchtung und auch Hungersnot. Und hier, der Bahnhof erstrahlte in allen Farben, weiß, grün, rot und auch die nahe Stadt war richtig beleuchtet.

Wir bekamen zu essen, eine undefinierbare weiße Suppe, aber es war etwas Warmes! Ähnliches gab’s auch bei der Durchfahrt durch Berlin, wahrscheinlich norddeutsche Kost.

Der Zug fuhr durch Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Bayern. In Fürth erwartete uns eine Überraschung. Am Bahnhof wurde unser Transport in einen großen Saal gewiesen und da gab es Würstl mit Kraut und dazu ein Bier. Das war herrlich nach so einer langen Fahrt!!!

In Passau wurden die Österreicher in die Nachkriegsstaaten zerteilt, zum Leidwesen vieler, die nach Wien oder zu ihren Ersatzkommandos wollten. Die meisten Leute konnten nicht verstehen, daß sie nun nicht mehr Österreicher sein sollten.

Wir „echten“ Österreicher bekamen eigene Personenwagen und fuhren mit Schimpfen weiter, weil es nicht schon an der Grenze Menage gab. Nach etlichen Bahnstunden hielten wir in Wien-Hütteldorf und mit der Straßenbahn ging es weiter bis zur Landwehrkaserne in Baumgarten, die damals noch nicht ein Altersversorgungshaus war.


[up] [CV] [War Diary] [Letters] [Job] [Klingfurth]




We appreciate your comments, please send them to Paul Schröfl (pauli schroefl.com). The usage of this Web Site underlies our usage policy. © 1990- 2024 Paul Schröfl, Lisl Schröfl. Last changes made on december 7th, 2021

layout: Stück Papier
layout: Stück Papier
layout: Stück Papier

Home

Biographies
Pedigree
Photographies
Maps
This & That
Links
Contact
Guestbook
Web Log
deutsch  Deutsche Version


 
layout: Stück Papier
Wappen Schröfl-Mannsperg